Zweiter Artikel. Das Gesetz hat immer Beziehung zum allgemeinen Besten.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Das Gesetz befiehlt und verbietet. Befehle aber haben Beziehung zu besonderen Gütern. II. Das Gesetz leitet im Handeln. Die Handlungen aber sind immer unter besonderen Umständen. III. Isidor sagt (5 Etym. 3.): „Wenn das Gesetz in der Vernunft besteht, so wird Gesetz sein Alles, was durch die Vernunft festgestellt ist.“ Die Vernunft aber stellt fest nicht nur was dem allgemeinen Besten dient, sondern auch was zum Vorteile des einzelnen gereicht. Also. Auf der anderen Seite sagt Isidor (l. c. c. 3.): „Das Gesetz ist aufgestellt; nicht auf Grund eines Privatvorteiles, sondern wegen des Gemeinbesten.“ k) Ich antworte, das Gesetz gehöre dem an, was dasteht als Princip der menschlichen Handlungen, weil es Regel und Maßstab ist. Wie aber die Vernunft das Princip menschlichen Wirkens ist, so besteht auch in der Vernunft selber etwas, was Princip ist mit Rücksicht auf das Übrige; so daß auf dieses sich an erster Stelle das Gesetz beziehen muß. Das erste Princip nun im praktischen Leben ist der letzte Endzweck. Der letzte Endzweck des menschlichen Lebens aber ist die Glückseligkeit. Also beschäftigt sich das Gesetz in erster Linie mit dem, was zur Glückseligkeit Bezug hat. Und da wiederum jeder Teil zum Ganzen Beziehung hat, wie Unvollendetes zum Vollendeten (ein Mensch aber ist ein Teil der vollendeten Gemeinschaft), so muß das Gesetz zuerst berücksichtigen die Beziehung zur gemeinsamen Glückseligkeit. Deshalb sagt Aristoteles (5 Ethic. 1.): „Wir nennen gesetzliches Gute (legalia justa) das, was herstellt und bewahrt die Glückseligkeit und die gesellschaftliche Gemeinsamkeit der einzelnen.“ Im jeden Seinsbereiche aber ist was das Erste ist Princip alles Übrigen und das Übrige ist nur dieser betreffenden Seinsart angehörig, insoweit es Beziehung hat zum Ersten; wie das Feuer, weil das Erste in der Wärme, als Princip dasteht für die Wärme in den zusammengesetzten, gemischten Körpern die insoweit warm sind als sie am Feuer Anteil haben. Also da das Gesetz an erster Stelle das allgemeine Beste berücksichtigt, hat kein Gesetz über etwas Besonderes den Charakter eines Gesetzes, außer insoweit es seine Kraft erhält von der Beziehung zum Gemeinbesten. Jedes Gesetz also hat Beziehung zum allgemeinen Besten.
c) I. Die Beziehung zum Gemeinbesten ist anwendbar auf besondere beschränkte Zwecke; und danach gelten Gesetze auch rücksichtlich des Besonderen. II. Jene besonderen Umstände, unter denen die menschlichen Handlungen sich vollziehen, sind beziehbar auf das Gemeinbeste, wie auf die Gemeinsamkeit der Zweckursache; denn das Gemeinbeste ist der Zweck von allem Besonderen. III. Die Schlußfolgerungen im Spekulativen stehen nur fest vermittelst dessen, daß sie sich zurückführen lassen auf die ersten Principien. Und ebenso ist nichts zuverlässig für die praktische Vernunft, außer was sich zurückführen läßt auf den letzten Zweck, das Gemeinbeste; und nur was auf diese Weise feststeht, hat den Charakter eines Gesetzes.
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