Vierter Artikel. Nach dem Leiden Christi dürfen die Ceremonialvorschriften des Alten Bundes nicht mehr beobachtet werden.
a) Das scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Die Apostel haben nach der Ankunft des heiligen Geistes noch diese Vorschriften eingehalten; wie z. B. Paulus den Timotheus beschnitten hat. Und Act. 16. heißt es, daß auf den Rat des Jakobus Paulus „mit anderen Männern… gereinigt zugleich mit ihnen eingetreten ist in den Tempel und ankündigte, die Tage der Reinigung seien bis zu Ende beobachtet worden, so daß für jeden das Opfer dargebracht wurde.“ Es ist aber nicht anzunehmen, daß die Apostel damit eine Todsünde begangen haben. Also durften sie die „gesetzlichen“ Vorschriften beobachten. II. Den Verkehr mit Heiden vermeiden, war ein Ceremonialgesetz. Petrus aber beobachtete es, nach Gal. 2.: „Er zog sich zurück und trennte sich von den Heiden.“ III. Im Konzil zu Jerusalem ward bestimmt (Act. 15.): „Es hat gut geschienen dem heiligen Geiste und uns, euch weiterhin keine Lasten aufzulegen, als daß ihr euch enthaltet des den Götzen Geopferten und des Blutes und des Erstickten und der Unkeuschheit.“ Das waren aber größtenteils Ceremonialvorschriften. Auf der anderen Seite sagt Paulus (Gal. 5.): „Wenn ihr noch beschnitten werdet, so wird euch Christus nicht von Nutzen sein.“ Nichts aber trennt von Christo wie die Todsünde. Also war die Beschneidung und die Beobachtung der anderen Ceremonialvorschriften Todsünde.
b) Ich antworte, alle Ceremonien seien gewisse Bekenntnisse des Glaubens, worin der innere Kult besteht. Den inneren Glauben aber kann der Mensch bekennen mit Worten und mit Thaten; und in einer jeden dieser Weisen sündigt er schwer, wenn er etwas Falsches bekennt. Nun ist freilich es der nämliche Glaube, den wir und den die alten Väter bekannten; weil aber sie vor Christo lebten und wir nach Ihm, so sind die Worte, mit denen wir diesen Glauben bekennen, nicht die nämlichen. Wenn von ihnen z. B. gesagt wurde: „Die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären,“ so müssen wir, um die Wahrheit zu sprechen, sagen: „Die Jungfrau hat empfangen und einen Sohn geboren.“ Ähnlich nun bezeichneten die Ceremonien des Alten Bundes den Heiland als einen zukünftigen; unsere Sakramente jedoch bezeichnen Ihn als einen bereits gekommenen. Wie also jener schwer sündigen würde, der da sagte, Christus werde geboren werden, obwohl die alten Väter es als eine Wahrheit aussprachen; so würde schwer sündigen, wer jetzt jene Ceremonien beobachtete, welche die Väter pflichtgemäß beobachteten. Und das schreibt Augustin gegen Faustus (lib. 19. c. 16.): „Nun wird der Heiland nicht mehr verheißen, als ob Er würde geboren werden, leiden, auferstehen, was jene Sakramente verkündeten; sondern Er wird gepredigt als geboren, als gestorben, als auferstanden, was unsere Sakramente verkünden.“
c) I. Hieronymus unterscheidet in dieser Frage zwei Zeiten (op. 75. et ad Gal. 2.: Sed cum vidissem): Die eine vor dem Leiden Christi, wo diese Ceremonialvorschriften weder tot waren, als ob sie nicht verpflichtet oder in ihrer Weise gesühnt hätten, noch todbringend, als ob etwa jene sündigten, die sie beobachteten; — die andere nach dem Leiden Christi, wo sie tot und todbringend seien, d. h. wo man ohne Todsünde sie nicht beobachten darf. Deshalb meinte er, die Apostel hätten niemals in Wahrheit sie nach dem Leiden des Herrn beobachtet, sondern nur einen frommen Schein gewahrt; damit sie den Juden kein Ärgernis gäben und so deren Bekehrung hinderten. Sie machten nämlich wohl jene Akte des „Gesetzes“, aber nicht als Ceremonien des „Gesetzes“; wie wenn jemand die Vorhaut des männlichen Gliedes sich abschnitte der Gesundheit halber, und nicht als Beschneidung im Sinne des „Gesetzes“. Es scheint aber ein solcher Schein für die Apostel nicht geziemend in dem, was das ewige Heil betraf. Deshalb unterschied Augustin drei Zeiten (ep. 40.): Die eine vor dem Leiden Christi, wo diese Gesetzvorschriften weder tot noch todbringend waren; die zweite nach der Verkündung und allseitigen Verbreitung des Evangeliums, wo diese Vorschriften tot waren und todbringend; die dritte zwischen dem Leiden Christi bis zur Verbreitung des Evangeliums, also die Zeit der Apostolischen Predigt bis zum Tode des letzten Apostels, wo diese Dinge tot waren, d. h. ohne Wert und Verpflichtung, aber nicht todbringend, insoweit nämlich die bekehrten Gläubigen sie wohl erlaubterweise beobachten konnten; jedoch ohne sie als notwendig für ihr Heil zu betrachten und ohne ihre Hoffnung darein zu setzen, als ob ohne sie der Glaube an Christum nicht rechtfertigen könnte. Und so beschnitt Paulus wohl den Timotheus, dessen Mutter eine Jüdin war. Den Titus jedoch, der von Heiden stammte, wollte er nicht beschneiden; denn für die aus dem Heidentume Bekehrten war dafür gar kein Grund vorhanden. Der heilige Geist aber wollte deshalb nicht, daß man sogleich die jüdischen Gebräuche verbiete, wie man die heidnischen verbot denen, die aus dem Heidentume bekehrt waren; damit ein Unterschied zwischen beiden gezeigt würde. Denn jene waren erfüllt durch das Leiden Christi, wofür sie nur als Sinnbild gedient hatten; die heidnischen Gebräuche aber waren immer Gott verhaßt. II. Hieronymus sagt, Petrus that dies zum Scheine, damit er den Juden kein Ärgernis gäbe, deren Apostel er war, sündigte also nicht; Paulus aber hätte ihn getadelt, auch zum Scheine, damit er den Heiden kein Ärgernis gäbe, deren Apostel er war. Augustin giebt dies nicht zu; denn sonst wäre in einem kanonischen Briefe etwas Falsches, da es Gal. 2. heißt: „Petrus war zu tadeln“ reprehensibilis erat. Petrus sündigte also thatsächlich; und Paulus tadelte ihn wirklich. Petrus aber sündigte nicht deshalb, weil er die Gesetzesvorschriften beobachtete, dies war erlaubt; sondern weil er in deren Beobachtung zu viele Sorgfalt bewies, so daß dadurch die aus dem Heidentums Bekehrten geärgert wurden. III. Viele meinen, jenes Verbot sei nicht wörtlich zu verstehen; sondern das „Blut“ bezeichne das Verbot des Mordes; das „Erstickte“, bezeichne das Verbot von Raub und Gewalt; und im Verbote „des den Götzen Dargebrachten“ sei zu verstehen das Verbot des Götzendienstes; nur die Unkeuschheit sei als Übel an sich verboten. Weil aber Raub und Totschlag auch bei den Heiden unerlaubt war, so hätte es nicht eines besonderen Gebotes deshalb für die aus dem Heidentume Betehrten bedurft. Deshalb sagen andere, die genannten Dinge seien verboten; nicht wegen der Beobachtung von Gesetzesvorschriften, sondern wegen der Gaumenlust. Weil jedoch manche andere Speisen die Gaumenlust mehr reizen, so erscheint kein Grund, warum diese Speisen gerade verboten waren und nicht zugleich andere. Deshalb muß man besser sagen, es seien diese Dinge wohl dem Buchstaben nach verboten; jedoch nicht damit man das Gesetz der Juden beobachte, sondern damit die Einheit aus Juden und Heiden sich leichter und bequemer gestalte. Für die Juden nämlich waren aus alter Gewohnheit das Blut und das Erstickte verabscheuenswert. Das Essen aber vom Geopferten seitens der Heiden konnte in den Juden den Verdacht erregen, als ob ihre Bekehrung nicht aufrichtig gewesen wäre. Dies Alles wurde also verboten für jene Zeit. Später hörte mit der Ursache auch die Wirkung auf, nachdem jene Wahrheit des Evangeliums in die Herzen gedrungen war, von der Christus sagt: „Nichts, was durch den Mund eintritt, verunreinigt den Menschen;“ und Paulus: „Nichts ist zu verwerfen, was genossen wird mit Danksagung.“ Die Unkeuschheit wird im besonderen verboten, weil die Heiden nicht meinten, sie sei Sünde.
