Zweiter Artikel. Das Gesetz des Neuen Bundes erfüllt das Alte Gesetz.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Nach Gal. 5, 2. entleert vielmehr der Neue Bund das Alte Gesetz: „Laßt ihr euch beschneiden, so nützt euch Christus nichts.“ II. Der Herr gab (z. B. Matth. 5.) im Neuen Bunde einige Gebote, welche denen im Alten Bunde entgegengesetzt sind: „Ihr habt gehört, wie den Alten gesagt worden ist: Wer seine Gattin entläßt, soll ihr einen Scheidebrief geben. Ich aber sage euch etc.“ Nichts aber wird durch sein Gegenteil erfüllt. III. Wer gegen das Gesetz handelt, erfüllt es nicht. Christus aber handelte oft gegen das Gesetz, so daß die Juden sagten (Joh. 9.): „Dieser Mensch ist nicht von Gott; denn er beobachtet den Sabbath nicht.“ IV. Mag auch der Herr nach Matth. 5. in Manchem die Moralvorschriften des Alten Bundes erfüllt haben; nirgends thut Er nach dieser Seite hin Erwähnung der Ceremonial- und richterlichen Vorschriften. Also ward das Alte Gesetz nicht erfüllt. Auf der anderen Seite sagt der Herr (Matth. 5.): „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu lösen, sondern zu erfüllen …. kein Iota und kein Pünktchen vom Gesetze wird vorübergehen, ohne daß es verwirklicht wird.“
b) Ich antworte, das Alte Gesetz stehe zum Neuen im Verhältnisse des Unvollkommenen zum Vollkommenen; das Unvollkommene aber wird jedenfalls vollendet durch das Vollkommene. Es können nun im Alten Gesetze betrachtet werden: der Zweck und die im Gesetze enthaltenen Vorschriften. Der Zweck eines jeden Gesetzes. ist, die Menschen tugendhaft zu machen. Also auch für das Alte Testament war der Zweck die Rechtfertigung. Und konnte es dieselbe nicht bewirken, so zeigte es doch auf dieselbe durch Figuren und Bilder in den Ceremonialgebräuchen hin und verhieß es die Rechtfertigung ausdrücklich in Worten. Diesbezüglich also vollendet der Neue Bund das Alte Gesetz, indem er thatsächlich rechtfertigt durch die Kraft des Leidens Christi. Deshalb sagt Paulus (Röm. 8.): „Was dem Gesetze unmöglich war, das vollendete Gott, der seinen Sohn sandte in die Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde und so im Fleische selber verurteilte die Sünde, damit die Rechtfertigung des Gesetzes in uns vollendet werde.“ Also erfüllt hier der Neue Bund das Alte Gesetz, 1. indem er bringt das, was dieses verhieß, nach 2. Kor. 1.: „Wie viele auch immer der Verheißungen Gottes sind, in Ihm werden sie vollendet;“ — 2. erfüllt der Neue Bund das, was die Figuren des Gesetzes enthielten, nach Koloss. 2., wo die Ceremonialvorschriften „Schatten der zukünftigen Dinge“ genannt werden, der Körper aber, d.i. die Wahrheit, sei der Christi; und wonach das Neue Gesetz „Gesetz der Wahrheit“ heißt, das Alte als „Figur und Schatten“ bezeichnet wird. Die Vorschriften des Gesetzes aber erfüllte Christus durch seine Werke und seine Lehre. Denn er wollte Sich beschneiden lassen und anderes zu jener Zeit Vorgeschriebene beobachten, nach Galat. 4.: „Unter dem Gesetze war Er gebildet.“ Durch seine Lehre erfüllte Er sodann das Gesetz: 1. weil Er dessen inneren Sinn aufdeckte; wie beim Totschlage und dem Ehebruche, wo die Pharisäer meinten, nur der äußere Akt sei verboten; Er vollendete also hier das Gesetz, weil Er zeigte, auch die entsprechenden inneren Akte der Sünde fielen unter das Verbot; — 2. weil Er Vorschriften gab, um zuverlässiger das Alte Gesetz zu beobachten; wie z. B. das Gesetz gebot, keinen Meineid zu thun, Christus aber vollendete dies, indem Er anordnete, gar nicht zu schwören außer im Notfalle, was zuverlässiger den Meineid vermeiden läßt; — 3. weil Er einige Räte der Vollkommenheit hinzufügte, die das Gesetz zur Vollendung brachten; wie Matth. 19.: „Willst du voll kommen sein, so verkaufe Alles “
c) I. Der Neue Bund entleert das Alte Gesetz nur mit Rücksicht auf die Ceremonialvorschriften; denn diese waren nur Figuren. Wenn nämlich bas Gute, was verheißen wurde, gegeben ist, verliert die Verheißung chren Inhalt. II. Augustin schreibt ( c. Faust. 19, 26.): „Jene Gebote des Herrn sind denen im Alten Bunde nicht entgegengesetzt. Denn was da der Herr gebietet, man solle die Frau nicht entlassen, ist nicht dem Gesetze entgegen; insofern dieses nicht sagt, man solle sie entlassen; — sondern das Gesetz wollte nicht, daß der Mann die Frau entließe, ohne daß diese verzögernde Vorsichtsmaßregel gebraucht würde, damit so vielleicht der Geist, der sich überstürzt hätte, Gelegenheit erhielte nachzudenken und vom Vorhaben abzustehen. Deshalb, damit niemand leichthin seine Frau entlasse, hat der Herr nur den Fall des Ehebruchs ausgenommen; und so das Gesetz vollendet. Dasselbe gilt vom Eidschwur und ebenso vom Wiedervergelten des Gleichen. Denn das Gesetz stellte das bestimmte Maß für die Rache fest, damit letztere nicht ganz maßlos sei; der Herr aber entfernt in vollkommenerer Weise von der Rache jenen, der sich ganz derselben enthalten soll. Was den Haß gegen Feinde betrifft, so entfernte der Herr das falsche Verständnis der Pharisäer, da Er uns ermähnte, die Schuld im anderen zu hassen, nicht die Person. Betreffs der verbotenen Speisen aber, einer Ceremonialvorschrift, gebot der Herr nichts, was damals bereits hätte beobachtet werden müssen; sondern Er that dar, daß keine Speise von ihrer Natur aus unrein sei, sondern nur im figürlichen Sinne, mit Rücksicht nämlich darauf was sie im Gesetze bezeichnen solle.“ III. Die Berührung des Aussätzigen war im Alten Gesetze verboten, weil der Mensch dadurch dem Gesetze nach unrein wurde wie auch infolge der Berührung eines Toten. (Kap. 102, Art. 5 ad IV.) Der Herr aber, welcher den Aussätzigen reinigte, konnte nicht durch den Aussätzigen unrein werden. Das Sabbathsgebot verletzte Er in Wahrheit nicht, wie Er Matth. 12. zeigt. Denn die Wunder that er am Sabbathe kraft seiner göttlichen Allmacht, die immer in den Dingen wirkt; ferner diente Er damit dem Wohle des Menschen, wie ja die Pharisäer auch für das Wohl der Tiere am Sabbathe sorgten; ferner entschuldigte Er seine Jünger, die Ähren abpflücken am Sabbathe, auf Grund der Notwendigkeit. Das abergläubische Verständnis der Pharisäer nur wies der Heiland zurück, die da glaubten, auch von guten Werken müsse man sich am Sabbathe enthalten. IV. Selbstverständlich fielen die Ceremonialvorschriften bei Erfüllung des durch sie Vorgebildeten fort; deshalb werden sie Matth. 5. nicht erwähnt. Von den richterlichen Vorschriften erwähnte der Herr nur das Wiedervergeltungsrecht von Gleichem mit Gleichem, damit, was Er davon sagte, von allen anderen gelte. Da aber lehrte Er, die Absicht des Gesetzes gehe nicht dahin, daß die Rachsucht dadurch befriedigt werden solle; diese sei viel mehr auszuschließen, insofern der Mensch auch noch größere Beleidigungen geduldig ertragen müsse; nur die Liebe zur Gerechtigkeit solle vorwalten, was im Neuen Bunde bestehen bleibt.
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