Erster Artikel, Die Kühnheit als Sünde.
a) Die Kühnheit ist gar keine Sünde. Denn: I. Gregor sagt vom Pferde als dem Bilde des guten Predigers (moral. 31. c. 11.): „Kühn tritt es den bewaffneten entgegen.“ Kein Fehler aber dient zur Empfehlung des fehlenden. II. „Langsam in der Beratung, schnell in der Ausführung,“ heißt es vom tugendhaften. (6 Ethic. 9.) Zu Letzterem aber hilft die Kühnheit. III. Die Kühnheit kommt von der Hoffnung. (I., II. Kap. 45, Art. 2.) Die Hoffnung aber ist keine Sünde, sondern weit eher eine Tugend. Also ist auch Kühnheit nie Sünde. Auf der anderen Seite heißt es Ekkli. 18.: „Mit dem kühnen gehe nicht zusammen auf dem Wege, daß nicht seine Übel auf dich fallen.“
b) Ich antworte, die Kühnheit sei eine Leidenschaft. Jede Leidenschaft aber ist Sünde, wenn sie des Maßes der Vernunft entbehrt; sei es daß sie dasselbe überschreitet oder darunter zurückbleibt. Nun werden manche Namen der Leidenschaften vom Übermaße hergenommen; wie man „Zorn“ nicht jedweden Zorn nennt, sondern einen zu großen. Und so nennt man auch Kühnheit oft etwas deshalb, weil es das Maß überschreitet; danach ist Kühnheit Sünde.
c) I. Kühnheit als von der Vernunft geregelt ist zur Tugend der Stärke gehörig. II. Die Kühnheit ist insoweit lobenswert als sie von der vernünftigen Überlegung, also von der Beratung, sich leiten läßt. Sie ist tadelnswert, insoweit sie mit übereilter Schnelle vorgeht. III. Manche Sünden haben keine Namen, ebenso wie dies manchen Tugenden ergeht (4 Ethic. 6.); und so nimmt man die Namen der entsprechenden Leidenschaften. Nun gebrauchen wir zur Bezeichnung der Sünden zumal jene Namen von Leidenschaften, welche auf ein Übel als auf den Gegenstand sich richten; wie dies beim Haß, Zorn z. B. der Fall ist. Und so geht es auch mit der Kühnheit. Liebe, Hoffnung aber haben zum Gegenstande das Gute; und danach nimmt man diese Leidenschaften zur Bezeichnung von Tugenden.
