Sechster Artikel. In Christo war Trauer.
a) Dem steht entgegen: I. Isai. 42.: „Er (Christus) wird nicht traurig sein und nicht unruhig.“ II. Prov. 12.: „Was auch immer dem gerechten begegnet, nichts wird ihn betrüben.“ Davon gaben den Grund die Stoiker an. Niemand nämlich trauert, außer über den Verlust der Güter, die er besessen. Der gerechte aber erachtet als seine Güter nur die Gerechtigkeit und die Tugend, die er nicht verlieren kann. Christus nun war im höchsten Grade gerecht. Also war Er nie traurig. III. Aristoteles (7 Ethic. 13.) schreibt, jede Trauer sei ein Übel und sonach zu fliehen. IV. Augustin (14. de civ. Dei 6.) sagt: „Trauer erstreckt sich auf das, was wider unseren Willen uns zustößt.“ Nichts aber stieß dem Herrn gegen dessen Willen zu; denn Isai. 53. steht geschrieben: „Er ist dargebracht worden, weil Er selbst gewollt hat.“ Auf der anderen Seite sagt der Herr selbst (Matth. 26.): „Traurig ist meine Seele bis zum Tode.“ Und Ambrosius (2. de Trin. oder de fide 3.): „Als Mensch hatte Er Trauer; denn meine Trauer hat Er auf sich genommen. Ich nenne vertrauensvoll dies Trauer, weil ich das Kreuz predige.“
b) Ich antworte; die Freude an der Anschauung Gottes ward so dem Geiste vorbehalten, daß sie nicht auf die niederen Seelenkräfte, auf den sinnlichen Teil also, überströmte, so daß da nicht der Schmerz ausgeschlossen wurde. Wie aber empfindlicher Schmerz da war, so auch Trauer. Der Unterschied ist im Beweggrunde oder im Gegenstande. Denn Schmerz wird verursacht durch die Verletzung des Körpers, welche vom Gefühle wahrgenommen wird; wie wenn man jemanden verwundet. Der Beweggrund oder Gegenstand der Trauer aber ist etwas Verderbliches, das man innerlich wahrnimmt, sei es durch die Vernunft fei es durch die Einbildungskraft (I., II. Kap. 33, Art. 2); wie wenn jemand trauert über den Verlust der Gnade oder des Geldes. Es konnte aber die Seele Christi etwas erfassen als entweder für sie selbst verderblich und schädlich, wie den Tod, das Leiden; oder als für andere verderblich, wie die Sünde der Jünger oder das Verbrechen der Juden, die Ihn töteten. Wie also in Christo wahrer Schmerz sein konnte, so auch wahre Trauer; immer aber anders wie in uns gemäß den Artikel 4 angegebenen drei Punkten.
c) I. Trauer als „volle Leidenschaft“, die ohne den Zügel der Vernunft herrscht, hatte Christus nicht; sondern nur gemäß dem Anfange im sinnlichen Teile: „Etwas Anderes ist es,“ schreibt zu Matth. 26, 37. Hieronymus, „Trauern; und etwas Anderes: Anfangen zu trauern.“ II. Für die drei verwirrenden Leidenschaften der Begierde, der Freude und der Furcht setzten nach Augustin (14. de civ. Dei 18.) die Stoiker drei gute Leidenschaften (εὐπαθείας) in die Seele des weisen: nämlich den Willen, die Zufriedenheit, die Vorsicht. Anstatt der Trauer aber sei nichts im Geiste des weisen. Denn die Trauer habe zum Gegenstände das Übel, ein Übel aber könne dem weisen nicht begegnen. Dies sagten sie gemäß ihrem Glauben, daß es nur ein Gut gäbe: das Anständige und Ehrbare, was die Menschen zu guten Menschen macht; — und demnach auch nur ein Übel: das Unehrbare, was die Menschen lasterhaft macht; — Beides aber hänge naturgemäß vom freien Willen ab. Nun ist wohl das Anständige oder Ehrbare, also das eigentliche moralisch Gute das hauptsächliche Gute für den Menschen, und das Unehrbare das hauptsächliche Übel, weil Beides auf die Vernunft sich bezieht als auf den Hauptteil im Menschen. Es giebt jedoch Güter an zweiter Stelle, welche sich auf den Körper selbst beziehm oder auf die äußeren Dinge, die dem Körper dienen. Und danach kann auch im Geiste des weisen Trauer sein gemäß dem sinnlichen Begehren, gemäß der Auffassung nämlich der entsprechenden Übel; freilich nicht bis zu dem Grade, daß sie die Vernunft verwirre. Und demgemäß betrübt nichts den gerechten, was auch immer ihm begegnet; weil nämlich durch nichts dergleichen seine Vernunft gestört wird. So nun war die Trauer in Christo; nicht als herrschende Leidenschaft, sondern als Anfang im sinnlichen Teile. III. Jede Trauer ist ein Übel als Strafe; nicht aber als Schuld,insofern nicht die Vernunft dadurch gestört wird. Deshalb sagt Augustin (14. de civ. Dei 9.): „Wenn alle diese Hinneigungen der rechten Richtschnur der Vernunft folgen, und zur Zeit und am Orte wo es sich gebührt, angewendet werden; wer wollte sie dann als Krankheiten oder als fehlerhafte Leidenschaften bezeichnen?“ IV. Es kann etwas dem Willen an sich zuwider sein, was trotzdem gewollt wird mit Rücksicht auf den Zweck; wie die bittere Medizin nicht an sich gewollt ist, sondern wegen der Gesundheit. So war das Leiden und der Tod Christi an sich unfreiwillig und verursachte Trauer. Es war aber gewollt mit Rücksicht auf den Zweck: die Erlösung der Menschen.
