3.
Mit vollem Rechte sagt die Braut im Hohenliede: »Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein.« Denn eine solche Liebe kann nicht ausgehen von einer so minderwertigen Sache, wie es meine Liebe ist. Aber wenn diese so niedrig ist, mein Bräutigam, was ist dann die Ursache, daß sie nicht in einem geschaffenen Dinge ruht, sondern sich bis zu ihrem Schöpfer erschwingt? O mein Gott, warum bin ich in der Gewalt meines Geliebten? Du, mein wahrer Liebhaber, fängst diesen Liebeskrieg an, der nichts anderes zu sein scheint als eine gewisse Verlassenheit und Unruhe aller Vermögen und Sinne, die hinausgehen auf die Plätze und Straßen und die Töchter Jerusalems beschwören, ihnen zu sagen, wo ihr Gott ist. Da also der Kampf einmal begonnen hat, gegen wen sollen sie streiten als gegen den, der sich zum Herrn der Festung, die sie bewohnten, d. i. des obersten Teiles der Seele, gemacht hat? Er hat sie daraus vertrieben, damit sie wiederkehren, ihren Besieger zu besiegen. Und sind sie, weil sie sich ohne ihn gesehen, ermüdet, dann ergeben sie sich bald als überwunden. Sie verlieren im Kampfe alle ihre Kräfte, kämpfen aber dann um so herrlicher; und dadurch, daß sie sich als Überwundene dem Sieger ergeben, überwinden sie den Sieger.
