5.
Zum Beispiel: Eine Frau ist deine Lebensgefährtin geworden, die dir das Leben auf jede Weise versüßt, S. 218 Frohsinn schafft und für Heiterkeit sorgt, haushälterisch und sparsam ist, in traurigen Stunden den größten Teil der Bitterkeit auf sich nimmt; sie wurde dir jäh vom Tod hinweggerafft. Reg’ dich nicht auf über das Unglück! Sprich nicht von einem blinden Zufall der Dinge, als wäre kein Lenker, der die Welt regiert. Mutmaße auch keinen bösen Weltenschöpfer1 und brüte nicht in unmäßiger Trauer verderbliche Lehren aus; fall nicht ab vom wahren Glauben! Ihr waret ja freilich zwei in einem Fleische2, und viel Nachsicht verdient der, welcher die Trennung und Auflösung der Gemeinschaft schmerzlich empfindet; aber deshalb Ungehöriges zu denken oder zu reden nützt dir nichts. Denk’ daran, daß Gott, der uns gestaltet und beseelt hat, jeder Seele eine eigene Lebensdauer gegeben und den einen Menschen diese, den anderen eine andere Sterbestunde bestimmt hat. Er verfügte, daß der eine länger im Fleische verbleibe, ein anderer schneller von den Banden des Leibes befreit werde — nach den unaussprechlichen Ratschlüssen seiner Weisheit und Gerechtigkeit. Wie manche von denen, die ins Gefängnis geworfen werden, längere Zeit in den Qualen der Fesseln schmachten müssen, andere eine schnellere Erlösung aus dem Elende finden, so werden auch von den Seelen manche länger, andere kürzere Zeit in diesem Leben zurückgehalten, so wie es jede verdient, und unser Schöpfer in seiner uns unbegreiflichen Weisheit und Tiefe von jeher vorsieht. Hörst du nicht David sprechen: „Führe aus dem Kerker meine Seele3!“ Hast du nicht von dem Heiligen gehört, daß seine Seele der Fesseln losgeworden sei4? Was tat Simeon, als er unsern Herrn in seine Arme schloß? Welchen Ausspruch tat er? Nicht den: „Nun entlässest du deinen Diener, o Herr5“? Denn für den, der nach dem Leben dort oben verlangt, ist der Aufenthalt im Fleische schmerzlicher als jede Strafe und jeder S. 219 Kerker. Verlange also nicht, daß die Verfügungen über die Seelen nach deinem Geschmack sich richten! Bedenk’ vielmehr, daß die im Leben Geeinten, dann im Tode Getrennten Wanderern gleichen, die denselben Weg gehen und nur dank des ständigen Verkehrs miteinander und durch gegenseitige Angewöhnung sich geeint haben. Haben sie dann den gemeinsamen Weg hinter sich und kommen an den Scheideweg, wo sie sich bei ihrem verschiedenen Zweck der Reise trennen müssen, so vergessen sie nicht ob der gegenseitigen Angewöhnung ihr Ziel, sondern erinnern sich an den ursprünglichen Zweck ihrer Reise und eilen ein jeder an sein Ziel. Wie nun diese einen verschiedenen Zweck der Reise hatten, auf der Wanderung aber aneinander sich gewöhnten und anschlossen, so ist auch denen, die in der Ehe oder sonst in einer Lebensgemeinschaft sich zusammengefunden haben, je ein besonderes Lebensziel gesetzt; dies vorherbestimmte Lebensziel trennt und scheidet notwendig die, welche miteinander verbunden waren.
