8.
Man darf aber ja nicht glauben, daß der, welcher den Tod von Menschen beweint und mit den Leidtragenden laut klagt, das Gebot erfülle. Ich kann doch einen Arzt nicht loben, der, anstatt den Kranken zu helfen, selbst von den Krankheiten sich anstecken läßt, oder den Steuermann, der, anstatt die Schiffsbemannung zu kommandieren, gegen den Sturm zu kämpfen und den Wogen auszuweichen und die Furchtsamen zu ermutigen, selbst seekrank wird und mit den Seeunkundigen den Mut sinken läßt. So steht es auch um den, der die Trauernden besucht, ihnen aber nichts Vernünftiges und Tröstliches zu bieten weiß, der vielmehr eine unangebrachte Teilnahme dem fremden Leid entgegenbringt. Es ist ganz in S. 224 der Ordnung, daß du ob der Prüfungen der Leidbetroffenen mittrauerst; so wirst du dich zum Vertrauten der Leidtragenden machen, wenn du angesichts ihres Unglücks dich nicht froh zeigst noch gleichgültig bei fremdem Leid. Aber weiter darfst du dich von den Leidtragenden nicht mit fortreißen lassen, nicht mit ihnen laut aufschreien, nicht wehklagen mit den Leidgequälten oder sonstwie die in schwarze Trauer Versenkten nachahmen und es ihnen gleichtun, daß du z. B. dich mit ihnen einschließest, dich schwarz kleidest, auf den Boden dich setzest und das Haar vernachlässigst. Das hieße das Unglück eher steigern als mildern. Siehst du nicht, daß die Schmerzen größer werden, wenn zu Wunden die Geschwulst, zu Fiebern Milzleiden hinzukommt, eine sanfte Berührung mit der Hand aber den Schmerz lindert? Mach’ also mit deiner Gegenwart das Leid nicht noch schmerzlicher, und falle nicht mit den Gefallenen! Wer nämlich einen Liegenden aufrichten will, muß jedenfalls höher stehen als der Gefallene; wer aber gleich tief gefallen ist, bedarf gleichfalls eines andern, der ihn aufrichte.
Anderseits ziemt es sich, an den Vorfällen inneren Anteil zu nehmen und im stillen über das Unglück zu trauern, auch in entsprechender Miene und würdevollem Ernste die Seelenstimmung zum Ausdruck zu bringen. Auch ist es nicht angezeigt, im Gespräche sogleich mit Vorwürfen herauszurücken, als wollte man auf die Niedergebeugten losgehen und sie mit Füßen treten. Denn Vorwürfe berühren kummervolle Seelen peinlich, und den Leidtragenden klingen unerträglich und trostesleer die Reden derer, die so ganz gefühllos bleiben. Läßt du sie aber ausklagen und ausjammern — es verschlägt ja nichts —, so wird der Schmerz bald nachlassen und sich legen, und du findest dann die Gelegenheit zu taktvoller, linder Tröstung. Auch die Pferdebändiger halten unbändige junge Rosse nicht gleich mit den Zügeln an, noch spornen sie dieselben — so würden sie die Rosse nur zum Sichaufbäumen und Abwerfen des Reiters erziehen —, sondern sie geben ihnen anfangs etwas nach und folgen ihnen. Sehen sie aber, daß sie ausgetobt haben und ihre Kraft gebrochen ist, dann nehmen sie S. 225 dieselben fest in die Zügel und machen sie sich mit ihrer Kunst allmählich gefügiger. So wird es nach dem Ausspruche Salomons „besser sein, in ein Trauerhaus zu gehen, als in ein Haus festlichen Gelages1“, wenn man in vernünftiger, mildernder Rede dem Leidenden die eigene Gesundheit mitteilen, nicht aber von der fremden Trauer wie von einer Augenkrankheit sich anstecken lassen will.
Eccle. 7, 3 [Ecclesiastes = Prediger; Hebr.: Eccle. 7, 2]. ↩
