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Zweifacher Art sind die Versuchungen: Die Trübsale erproben die Herzen wie Gold im Feuer1, indem sie durch Geduld ihre Tugend bewähren; anderseits werden auch oft glückliche Lebensumstände sehr vielen zur Versuchung. Es ist ja gleich schwer, in mißlichen Lagen stark und aufrecht zu bleiben, wie in glänzenden Verhältnissen nicht übermütig zu werden. Ein Beispiel für die erste Art von Versuchungen ist der große Job, der unbesiegte Kämpfer, welcher aller Gewalt des Teufels wie dem Ungestüm eines Gießbaches mit unerschrockenem Herzen und unerschütterlichem Vorsatze trotzte und um so mehr den Versuchungen sich S. 228 überlegen zeigte, je schwerer und schwieriger die Kämpfe schienen, die der Feind ihm anbot. Für die Versuchungen einer glücklichen Lebenslage ist nebst anderen Beispielen zu erwähnen auch der eben von uns verlassene Reiche, der zu dem Reichtum, den er schon hatte, noch weiteren erhoffte. Der gütige Gott verdammte ihn ja nicht gleich anfangs wegen seiner undankbaren Gesinnung; vielmehr ließ er zum vorhandenen Reichtum noch neuen Reichtum hinzukommen, um schließlich doch noch sein Herz zu befriedigen und ihn zur Freigebigkeit und Milde zu bewegen.
„Der Acker eines reichen Mannes“, heißt es, „trug reiche Frucht. Da dachte er bei sich selbst: Was soll ich tun? Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen2.“ Warum trug denn der Acker des Mannes Frucht, wenn er doch trotz des Erntesegens nichts Gutes tun wollte? Damit die Langmut Gottes noch mehr sichtbar würde, wenn sich seine Güte auch auf solche Kreaturen erstreckte. „Denn er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte und seine Sonne aufgehen über Böse und Gute3.“ Aber eine solche Güte Gottes erwirkt den Lasterhaften eine um so größere Strafe. Gott hat regnen lassen auf das von habsüchtigen Händen bebaute Land; er schickte die Sonne, die Samen zu erwärmen und den Ernteertrag zu vervielfältigen. Von Gott empfängt man solche Wohltaten, wie geeignetes Erdreich, gedeihliche Witterung, reichlichen Samen, der Stiere Arbeit, überhaupt alles, was den Landbau lohnend macht. Was hatte aber dieser Mensch als Antwort? Ein verbittertes Benehmen, Menschenhaß, Hartherzigkeit. So vergalt er dem Wohltäter. Er dachte nicht an die gemeinsame (Menschen-) Natur, glaubte nicht, vom Überflusse den Bedürftigen mitteilen zu müssen. Er kümmerte sich nicht um das Gebot: „Sei bereit, dem Dürftigen zu helfen4,“ und: „Almosen und Glaube sollen dich nicht verlassen5,“ und: „Brich’ dem Hungrigen dein Brot6!“ Er S. 229 hörte auf keinen Propheten und Lehrer; und mochten die Scheunen für die Menge des aufgespeicherten Vorrates zu enge sein und fast bersten — das habsüchtige Herz ward nicht voll. Er schüttete immer eine neue Ernte zur alten und vermehrte so jährlich den Vorrat, konnte sich vom alten Vorrate aus Habsucht nicht losmachen und anderseits doch den neuen überreichen Ertrag nicht fassen, und so kam er in jene Verlegenheit, aus der er keinen Ausweg sah. So härmte er sich immer ab mit Plänen und Sorgen: „Was soll ich tun?“ Wer sollte nicht Mitleid haben mit einem so bedrängten Manne? Er ist unglücklich wegen der reichen Ernte, bedauernswert wegen der Schätze, die er schon hat, und noch bedauernswerter ob der zu erhoffenden Güter. Ihm bringt das Land keine Erträge, ihm verursacht es nur Seufzer; ihm bringt es keinen Überfluß an Früchten, sondern Sorgen, Betrübnis und quälende Verlegenheit. Er jammert wie die Armen. Oder redet er nicht dieselbe Sprache wie ein Armer in seiner Not? „Was soll ich tun?“ „Woher Nahrung, woher Kleider nehmen?“ Dasselbe sagt auch der Reiche betrübten Herzens und von Sorgen gequält. Denn was die andern erfreut, darüber härmt der Geizige sich ab. Es freut ihn nicht, daß alle seine Scheunen voll sind; vielmehr quält der übermäßige Reichtum, den seine Vorratshäuser nicht fassen können, seine Seele mit der Furcht, er möchte andern zugute kommen und eine Wohltat für die Armen werden.
