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Du redest zwar im Stillen mit dir selbst; aber deine Worte werden im Himmel geprüft; deshalb kommen dir von dorther die Antworten. Was sind das für Worte, die er spricht? „Seele, du hast großen Vorrat an Gütern; iß, trink, laß dir täglich wohl sein1!“ O die Torheit! Hättest du eine Schweine-Seele, was könntest du ihr etwas anderes zurufen? Bist du so viehisch, so verständnislos für die Güter der Seele, daß du sie mit Fleischspeisen regalieren willst? Was die Kloake aufnimmt, das bestimmst du für die Seele? Besitzt sie Tugend, ist sie voll guter Werke, ist sie mit Gott vereint, so besitzt sie viele Güter und soll sich einer entzückenden Seelenwonne erfreuen. Da du aber irdisch gesinnt bist und Gott dein Bauch ist und du ganz fleischlich bist und ein Sklave der Leidenschaften, so höre denn die auf dich passende Bezeichnung, die dir nicht ein Mensch beigelegt hat, die dir der Herr selbst gibt: „Du Tor, in dieser Nacht noch wird man deine Seele von dir fordern; was du nun bereitet hast, wem wird es gehören2?“ Der Hohn auf diese Torheit ist schrecklicher als die ewige Strafe. Was macht doch der, der in kurzem weggerafft werden soll, für Pläne? „Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen.“ Du tust gut daran, möchte ich ihm sagen. Denn für den Abbruch reif sind die Scheunen der Ungerechtigkeit. Zerstöre mit eigener Hand, was du schlecht aufgebaut hast! Reiß die Getreidemagazine ein, die noch nie einer getröstet verlassen! Mach’ das ganze Haus, das deine Habsucht aufbewahrt, dem Erdboden gleich. Deck’ die Dächer ab, reiß nieder die Mauern, bring’ das verschimmelte Getreide an die Sonne, führe den gefesselten Reichtum aus dem Kerker, öffne triumphierend die dunklen Gemächer des Mammon!
S. 236 „Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen.“ Hast du dann diese neuen gefüllt, was wirst du dann ersinnen? Wirst du sie etwa wieder abbrechen und wieder aufbauen? Gäbe es noch Törichteres als das — endlos sich abmühen, eifrig bauen und ebenso eifrig wieder abbrechen? Du hast ja Scheunen, wenn du willst, an den Häusern der Armen. „Sammle dir einen Schatz im Himmel3!“ Was dort aufbewahrt wird, das verzehren nicht Motten, frißt nicht der Rost, stehlen nicht die Diebe4. — Doch ich werde den Armen mitteilen, sobald ich die zweiten Scheunen angefüllt habe. Du hast dir wohl eine lange Lebensdauer bestimmt. Gib acht, daß nicht etwa dein Tag dich vorher jäh überrascht! Dein Versprechen ist ja auch kein Beweis für deine Güte, sondern für deine Bosheit. Denn du versprichst, nicht um nachher zu geben, sondern um dem Geben in der Gegenwart auszuweichen. Was hindert dich denn, jetzt schon mitzuteilen? Gibt es keine Armen? Sind deine Scheunen nicht voll? Liegt der Lohn nicht bereit? Ist das Gebot nicht deutlich? Der Hungrige verschmachtet; der Nackte starrt vor Kälte; der Schuldner wird geängstigt, und du verschiebst das Almosen auf morgen? Höre Salomon! „Sage nicht, geh und komm wieder; morgen will ich dir geben; denn du weißt nicht, was der folgende Tag bringt5.“ Welche Gebote verachtest du, der du mit deiner Geldliebe dir die Ohren verstopfst? Wie dankbar solltest du dem Wohltäter sein, wie dich freuen und der Ehre dich rühmen, daß nicht du an den Türen anderer zu klopfen brauchst, sondern daß andere die deinige belagern! Nun aber bist du mürrisch und kaum zugänglich; du weichst jeder Begegnung mit Armen aus, damit du ja nicht genötigt wirst, auch nur etwas Weniges aus der Hand zu geben. Du kennst nur die eine Rede: „Ich habe nichts und werde nichts geben; denn ich bin arm.“ — Arm bist du in der Tat und bar jeglichen guten Werkes, arm an Liebe, arm an Gottesglauben, arm an ewiger Hoffnung. S. 237 Teile von dem Getreide deinen Brüdern mit! Was morgen fault, gib heute den Armen! Die häßlichste Gestalt zeigt die Habsucht dann, wenn sie nicht einmal von dem, was verdirbt, den Armen mitteilt.
