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An alle diese Einzelheiten erinnere dich, um die aufflammende Leidenschaft niederzuhalten. Denn solche vorbeugende Gesinnungen halten gleichsam die Aufwallungen und Schläge des Herzens hintan und geben dem Geiste das Gleichgewicht und die Ruhe. Das ist es auch, was David mit den Worten ausgedrückt hat: „Gefaßt bin ich und nicht erschüttert1.“ Man muß also die leidenschaftliche, betäubende Aufwallung der Seele durch die Erinnerung an die Beispiele seliger Männer niederhalten, wie z. B. der große David die Verhöhnung durch Semei gelassen ertragen hat. Er ließ dem Zorne S. 284 keine Zeit, sich zu regen, sondern kehrte sein Herz zu Gott und sprach: „Der Herr hat dem Semei geboten, dem David zu fluchen2.“ Als er daher sich einen Blutmenschen und Gottlosen schelten hörte, zürnte er jenem nicht, sondern verdemütigte sich, wie wenn er die Schmähung verdient hätte. Folgende zwei Dinge banne aus deinem Herzen: Halte nicht große Dinge auf dich selbst und wähne anderseits keinen Menschen tief unter dir! Denn so wird trotz einer Flut von Schmähungen niemals der Zorn in uns auflodern. Es ist zwar arg, wenn ein Mensch, der von uns Wohltaten empfangen hat und uns zu größtem Danke verpflichtet wäre, zum Undank noch Schmähung und Schimpf fügt. Es ist das arg. Allein der Schaden ist größer für den, der das Unrecht begeht, als für den, der es leidet. Dieser Mensch mag schmähen; du aber schmähe nicht! Seine Worte sollen dir zur Übung in der Weisheit dienen. Wenn du dich nicht ärgerst, so bist du nicht verwundet. Wenn aber die Worte dir auch in der Seele etwas wehe tun, behalt den Schmerz bei dir! „Denn in mir“, spricht David, „ist mein Herz betrübt3,“ d. h. der Schmerz hat sich nicht nach außen ergossen, sondern legte sich wie eine Woge, die sich innerhalb der Ufer bricht. Beruhige dein grollendes, verbittertes Herz! Deine Leidenschaften sollen den Blick deiner Vernunft scheuen wie unartige Kinder die Gegenwart eines ehrwürdigen Mannes.
Wie können wir nun den üblen Folgen des Zornes entrinnen? Wenn wir es dahin bringen, daß die Erregung dem vernünftigen Denken nicht vorgreift, wenn wir vor allem darauf sehen, daß sie niemals der Einsicht vorauseilt, daß wir sie wie ein Pferd im Zaume halten, und daß sie der Vernunft wie einem Zügel folgt, niemals die ihr gewiesenen Schranken durchbricht und sich führen läßt, wohin immer die Vernunft den Weg weist. Es ist ja die Leidenschaft unserer Seele zu vielen Tugendübungen behilflich, wenn sie nämlich wie ein Soldat, der beim Feldherrn Posten steht, auf Befehl willig Dienste leistet und der Vernunft im Kampfe gegen die S. 285 Sünde hilft . Gleichsam ein Nerv der Seele ist die Erregbarkeit, die ihr zur Vollbringung des Guten die Spannkraft gibt. Ist nämlich die Seele einmal durch Genuß schlaff geworden, so schafft die Leidenschaft die allzu weichliche und matt gewordene zu einer starken, energischen um, wie man ja auch Eisen durch Eintauchen in Wasser härtet. Wenn du nämlich gegen den bösen Geist nicht leidenschaftlich aufgeregt bist, so kannst du ihn nicht hassen, wie er es verdient. Denn ich glaube, man muß mit demselben Feuer die Tugend lieben, mit dem man die Sünde haßt. Dazu ist eben der Zorn behilflich, wenn er der Vernunft folgt wie der Hund dem Hirten, wenn er besänftigt und zutraulich bleibt gegen die, welche ihm nützen, und leicht von der Vernunft sich leiten läßt, dagegen bei fremder Stimme und fremdem Gesicht erregt wird, auch wenn sie ihm willfährig erscheinen, sich aber schmiegt, sobald sein Vertrauter und Freund ihm zuruft. Das ist die beste und dem vernünftigen Teile der Seele angemessenste Hilfeleistung seitens der Leidenschaft. Ein solcher Mensch wird nie mit seinen (wirklichen) Feinden sich versöhnen und verbinden, nie eine üble Freundschaft unterhalten, sondern die feindliche Lust wie einen Wolf immer anbellen und zerfleischen. Solchen Nutzen ziehen also die aus dem Zorn, die ihn zu handhaben wissen. Auch jede andere Seelenkraft wird je nach dem Gebrauche, den der Besitzer von ihr macht, entweder etwas Gutes oder etwas Böses. So z. B. ist derjenige, der das Begehrungsvermögen der Seele zur Fleischeslust und zu unreinen Genüssen mißbraucht, fluchwürdig und unzüchtig; wer es aber auf die Liebe Gottes und das Verlangen nach den ewigen Gütern einstellt, der ist beneidenswert und selig. Ferner ist der, welcher das Erkenntnisvermögen recht zu handhaben weiß, verständig und einsichtsvoll; wer aber seinen Verstand zur Schädigung des Nebenmenschen schärft, ist arglistig und verrucht.
