6.
Hüten wir uns also, das, was uns der Schöpfer zum Heile gegeben hat, zum Anreiz der Sünde zu machen. So schafft ja auch das Gefühl, wenn es zur rechten Zeit und in richtiger Art erregt wird, Mut, S. 286 Ausdauer und Selbstbeherrschung; betätigt es sich aber vernunftwidrig, dann wird es zur Raserei. Daher mahnt uns auch der Psalm: „Zürnt, aber sündigt nicht1!“ Und der Herr droht dem, der ungerecht zürnt, mit dem Gerichte2, verbietet aber nicht, da, wo es notwendig ist, vom Zorn gleichsam in Form einer Arznei Gebrauch zu machen. Denn die Worte: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Schlange3“, und die weiteren: „Befeindet die Madianiten4“, lehren, daß man sich des Zornes als einer Waffe bedienen soll. Daher hat auch Moses, der sanftmütigste Mann von der Welt, zur Bestrafung der Abgötterei die Hände der Leviten zum Morde ihrer Brüder bewaffnet. „Ein jeder“, sagt er, „gürte sein Schwert um die Hüfte und gehet von Tor zu Tor und kehret zurück durch das Lager, und jeder töte seinen Bruder, jeder seinen Freund, jeder seinen Nachbar5!“ Und kurz hernach heißt es: „Und Moses sprach: Ihr habt heute dem Herrn eure Hände geweiht, ein jeder an seinem Sohne und an seinem Bruder, damit ihr gesegnet werdet6.“ Und was hat den Phines gerechtfertigt? Nicht der gerechte Zorn gegen die Unzüchtigen? Er war sonst überaus sanft und gelassen; als er aber den Zambei mit einer Madianitin öffentlich und ohne alle Scham Unzucht treiben sah und sie nicht einmal den abscheulichen Anblick der Schande verbargen, konnte er sich nicht mehr halten, ließ seinem gerechten Zorn den Lauf und jagte durch beide die Lanze7. Hat nicht auch Samuel den Agag, den König von Amalek, der von Saul gegen den Befehl Gottes verschont worden war, in gerechtem Zorn in die Mitte geführt und getötet8? So wird oft der Zorn ein Gehilfe zu guten Werken. Der Eiferer Elias hat vierhundertfünfzig Priester der Schande und vierhundert Priester der Haine, die am Tische Jezabels aßen, mit überlegtem und weisem Zorn zum Segen von ganz Israel getötet9. — Du aber zürnst ohne Grund S. 287 deinem Bruder. Wie, nicht ohne Grund, wenn du doch einem andern zürnst als dem, der am Werke war? Du machst es wie die Hunde, die in die Steine beißen, wenn sie den, der sie geworfen, nicht fassen können. Wer sich als Werkzeug benützen läßt, ist bedauernswert, wer aber am Werke ist, ist hassenswert. Dem gelte dein Zorn, dem Menschenmörder, dem Vater der Lüge, dem Urheber der Sünde! Mit dem Bruder aber hab’ Mitleid, weil er beim Verharren in der Sünde — zugleich mit dem Teufel — dem ewigen Feuer überantwortet wird.
Wie die Worte „Aufregung“ und „Zorn“ verschieden klingen, so ist auch deren Bedeutung eine sehr verschiedene. Die „Aufregung“ ist gleichsam ein Aufflammen und heftiges Aufwallen der Leidenschaft; der „Zorn“ aber ist eine anhaltende Betrübnis und ein dauerndes Verlangen, sich am Beleidiger zu rächen, wobei die Seele von Rachgier gleichsam strotzt. Man muß nun wohl bedenken, daß man in beiden Fällen sündigt, sowohl wenn man wahnsinnig und leidenschaftlich gegen den Beleidiger wütet, als wenn man mit List und Tücke dem, der uns gekränkt hat, beizukommen sucht. Vor dem einen wie vor dem andern müssen wir uns hüten.
