5.
Fliehen wir das unausstehliche Laster! Es ist eine Lehre der Schlange, eine Ausgeburt der Dämonen, eine Saat des Feindes, ein Unterpfand der Strafe, ein Hindernis der Gottseligkeit, ein Weg zur Hölle, eine Beraubung des Himmelreiches. — Die Neider sind übrigens schon am Gesichte erkenntlich: Ihr Auge ist trocken und glanzlos, die Wange eingefallen, die Augenbrauen zusammengezogen, die Seele von Leidenschaft verwirrt, ohne rechtes Urteil über die Dinge. Keine Tugendübung findet bei ihnen das Lob, keine herrliche und glänzende Redegabe, überhaupt nichts von all dem, was begehrens- und bewundernswert. Wie die Geier auf das Übelriechende sich stürzen — im Flug hinweg über viele Wiesen und viele wonnige, duftige Plätze —, wie die Fliegen am gesunden Teile vorbeilaufen und das Geschwür aufsuchen, so sehen auch die Mißgünstigen über die Schönheiten im Leben und die Großtaten hinweg und wenden sich dem Erbärmlichen zu. Und kommt einmal ein Fehler vor, wie so oft im menschlichen Leben, so tragen sie das in die Öffentlichkeit und wollen damit die Menschen brandmarken, wie boshafte Maler, die durch eine krumme Nase, einen Höcker oder sonst einen natürlichen oder zufälligen Fehler die Gestalten ihrer Bilder kenntlich machen. Ja, raffiniert wissen sie das Lobenswerte schlecht zu machen und zu begeifern, und die Tugend durch das angrenzende Laster zu verleumden1: So nennen sie den Tapferen verwegen, den Mäßigen gefühllos, den Gerechten grausam, den Klugen verschmitzt. Den Großmütigen verleumden sie als Prunksüchtigen, den Freigebigen als Verschwender, den Sparsamen als S. 297 Knicker. Kurz: alle Arten von Tugenden finden bei ihnen die Bezeichnung mit den Namen der entgegengesetzten Laster.
Wie nun? Sollen wir mit der Anklage des Lasters die Rede schließen? Das wäre nur halbe Heilung. Dem Kranken die Größe seiner Krankheit zeigen, damit er gehörig und ernstlich um das Übel sich kümmere, ist ja nicht wertlos. Aber hier angekommen ihn verlassen, ohne ihm zur Heilung die Hand zu reichen, heißt soviel, als den Kranken dem Siechtum preisgeben. Was nun tun? Wie sollen wir der Krankheit vorbeugen oder, von ihr befallen, ihr entrinnen?
Das erste ist, daß wir von den irdischen Gütern keines für groß, keines für ausgezeichnet erachten2, weder den materiellen Wohlstand noch hinwelkenden Ruhm noch körperliches Wohlbefinden. Für uns liegt doch das wahre Gut nicht in den Schranken der hinfälligen Dinge; wir sind doch zur Teilnahme an den ewigen und wahren Gütern berufen. Deshalb ist der Reiche des Reichtums wegen noch nicht glücklich zu preisen, der Mächtige nicht wegen seines großen Ansehens, der Starke nicht wegen seiner Körperkraft, der Weise nicht wegen seiner großen Rednergabe. Diese Güter sind Mittel zur Tugend3 für die, welche guten Gebrauch davon machen, enthalten aber in sich nicht schon die Seligkeit. Wer schlechten Gebrauch davon macht, ist bedauernswert wie der, welcher mit dem Schwert, das er zur Abwehr des Feindes ergriffen, sich selbst freiwillig verwundet. Wenn aber der Mensch das, was ihm beschieden wurde, recht und vernünftig gebraucht und als ein Lehen aus Gottes Hand verwaltet, nicht aber zu eigenem Genusse sich bereichert, so verdient er wegen seiner Nächstenliebe und Mildtätigkeit gelobt und geliebt S. 298 zu werden. — Zeichnet ein anderer sich durch Weisheit aus, ist er für die Predigt des Wortes Gottes begnadigt und ein Interpret der heiligen Worte, so beneide ihn nicht und wünsche nicht, der Verkünder des göttlichen Wortes möge schweigen, wenn ihm etwa durch die Gnade des Hl. Geistes seitens der Zuhörer Lob und Beifall gespendet wird! Dein ist ja das Gut; dir ward durch den Bruder die Gabe der Belehrung zuteil, wenn du sie annehmen willst. Niemand verstopft doch eine sprudelnde Quelle; niemand verhüllt sein Antlitz vor dem Sonnenschein noch beneidet man die Schauenden4, sondern wünscht auch sich den Genuß. Rauscht aber in der Kirche die geistliche Rede und quillt ein frommes Herz unter den Gaben des Geistes über, warum gibst du da nicht freudig Gehör? Warum nimmst du den Nutzen nicht dankbar an? Doch nein, es wurmt dich der Beifall der Hörer5, und du möchtest, daß keiner etwas von der Predigt hätte und keiner den Redner lobte! Wie willst du das einmal vor dem Richter unserer Herzen rechtfertigen?
Wir müssen also annehmen, daß das seelische Gut schon von Natur gut ist; den aber, der über großen Reichtum verfügt und auf seine Macht und körperliche Gesundheit stolz sein darf, von diesen Gütern aber einen guten Gebrauch macht, den müssen wir lieben und achten, weil er ein Mann ist, der zwar alles, was zum Leben gehört, besitzt, aber davon guten, vernünftigen Gebrauch macht, dem Notleidenden reichlich von seinem Gelde spendet, dem Schwachen mit seiner Stärke behilflich ist und sein ganzes übriges Vermögen ebensogut dem nächsten besten Armen wie ihm selbst gehörig glaubt. Wer aber keine solche Auffassung von seinen Gütern hat, den müssen wir eher bedauern als beneiden, da er mehr Gelegenheiten zum Schlechtsein hat; denn das heißt mit größerem Pomp und Aufwand ins Verderben stürzen. S. 299 Ist nämlich der Reichtum ein Reisegeld auf dem Wege zur Ungerechtigkeit, dann ist der Reiche zu bedauern; ist er ihm aber zur Tugend behilflich, dann gibt es für den Neid keinen Raum, weil alle daraus gemeinsam Nutzen ziehen, es müßte denn nur einer im Übermaße der Bosheit sogar sich selbst das Gute mißgönnen.
Wenn man überhaupt über das Menschliche hinwegsieht und auf das wahrhaft Schöne und Lobenswerte abzielt, dann wird man entfernt nicht etwas Vergängliches und Irdisches als etwas Beseligendes und Begehrenswertes erachten. Wer so denkt und das Weltliche nicht als etwas Großes anstaunt, bei dem kann der Neid nie Einlaß finden. Bist du aber voll Ehrgeiz und willst du vor der Menge glänzen und willst du daher nicht mit dem zweiten Platz dich bescheiden — es gibt ja auch das Anlaß zum Neid —, dann lenke deinen Ehrgeiz wie einen Strom auf den Erwerb der Tugend! Wünsche nicht, um jeden Preis und auf jede Weise reich zu werden oder berühmt zu sein nach Art der Welt! Das steht ja nicht bei dir. Wohl aber sei gerecht, mäßig, vernünftig, starkmütig und geduldig in deinen Opfern für die Gottseligkeit! So wirst du dich selbst retten und auf Grund höherer Güter auch höheren Ruhm ernten. Die Tugend steht in unserer Macht und kann durch Fleiß errungen werden; aber Fülle des Reichtums, Schönheit des Körpers und hohe Würde stehen nicht in unserer Macht. Ist nun die Tugend das höhere und dauerhaftere Gut, die nach allgemeiner Anschauung den Vorrang behauptet, so müssen wir sie erstreben. Sie kann aber in der Seele nicht Wurzel fassen, wenn wir diese nicht von den Leidenschaften und zuallererst von der des Neides reinigen.
Vgl. Seneka, ep. 120: „Sunt enim, ut scio, virtutibus vitia confinia, et perditis quoque ac turpibus recti similitudo est.“ ↩
Bekanntlich auch der Grundsatz fast aller Philosophen des Altertums, den Horaz (ep. I, 6, 1—2) in den viel zitierten Versen ausdrückte: „Nil admirari prope res est una, Numici, Solaque, quae possit facere et servare beatum.“ ↩
Auch die Lehre eines Plato (Euthydemos p. 281 C; Leges p. 682 B), Aristoteles (Ethika I, 8, 15) und Seneca (de vita beata c. 24). ↩
Wörtlich: die „Betreffenden“ (ἐκείνοις) [ekeinois]. ↩
Zu damaliger Zeit war es üblich, dem Prediger während des Vortrages lauten Beifall zu klatschen. Vgl. Zellinger J., Der Beifall in der altchristlichen Predigt, in der Festgabe Alois Knöpfler, 1917, S. 403 ff. ↩
