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Zweifacher Stand derer, die aus diesem Leben scheiden.
S. 194 Wenn die Menschenseele aus dem Leibe scheidet, vollzieht sich mit ihr ein großes Geheimnis. Hat sie Sündenschuld auf sich, so kommen Dämonenscharen, unheilkündende Engel und Mächte der Finsternis, ergreifen jene Seele und halten sie in ihrer eigenen Gesellschaft fest. Das darf niemand wundernehmen. Denn wenn [ein Mensch] schon im Leben und in dieser Welt [ihnen] unterworfen war, gehorchte und ihr Sklave war, um wieviel mehr wird er beim Scheiden aus dieser Welt von ihnen in Besitz genommen und festgehalten. Betreffs der Guten aber mußt du dir die Sache so vorstellen: Den heiligen Gottesdienern stehen jetzt schon Engel zur Seite und heilige Geister umgeben und schützen sie. Scheiden sie dann aus dem Leibe, so nehmen die Engelchöre ihre Seelen auf in ihr Eigentum, in die reine Welt. Und so führen sie dieselben zum Herrn1. 23. Homilie.
Ähnliche Gedanken finden sich im letzten Kap. der Vita der hl. Melania († 439) von dem Mönche Gerontius († 485), ins Deutsche übersetzt von St. Krottenthaler in der Kirchenväterbibliothek Bd. „Griech. Liturgien. Palladius. Gerontius.“ Kempten-München 1912, S. 498: „Frohlockend stieg sie (= Melania) zum Himmel empor . . . Die feindlichen Mächte kreuzten nicht ihren Weg, denn sie konnten nichts Eignes an ihr entdecken. Freudig aber empfingen sie die heiligen Engel. . . Desgleichen begrüßten sie mit großer Freude die heiligen Propheten und Apostel und nahmen sie auf in ihren Chor . . . Die heiligen Märtyrer . . . zogen ihr jubelnd entgegen.“ — Fast die gleichen Redewendungen treffen wir, wie Krottenthaler wahrnahm, im Sterbegebet der römischen Kirche. In der Oration Deus misericors des Ordo commendationis animae heißt es: „Scheidet deine Seele aus dem Leibe, dann eile dir entgegen der Engel schimmernde Schar! Es komme zu dir das Richterkollegium der Apostel! Dich begrüße der glänzenden Märtyrer triumphierendes Heer!“ Die nämlichen Gedanken enthalten auch einige Gebete des heutigen römischen Begräbnisritus. Während der Leichnam zu Grabe getragen wird, sendet die Kirche durch den Priester dem Entschlafenen den schönen Gebetswunsch nach: „Kommet ihm zu Hilfe, ihr Heiligen Gottes! Kommet entgegen, ihr Engel des Herrn! Nehmet seine Seele auf und stellet sie dem Allerhöchsten dar! Es nehme dich Christus auf, der dich gerufen. In Abrahams Schoß (Luk. 16, 22 f.) mögen die Engel dich geleiten.“ In die Nähe des Grabes gekommen, fährt der Priester fort: „Ins Paradies mögen dich führen die Engel, bei deiner Ankunft dich empfangen die Märtyrer und dich hingeleiten in die heilige Stadt Jerusalem. Es nehme dich auf der Engel Chor, auf daß du mit Lazarus, dem ehedem armen, habest die ewige Ruhe.“ — Die Bitte um Aufnahme in „Abrahams Schoß“ findet sich bereits in einem Begräbnisgebet der apostolischen Konstitutionen (8, 41), das nach Funk um 400 in Syrien (Antiochien) entstanden ist, ebenso in einem von Pseudo-Dionysius Areopagita in seiner Ende des 5. oder Anfang des 6. Jahrh. in Syrien verfaßten „Kirchlichen Hierarchie“ (c. VII § 4) mitgeteilten Gebete, das der Bischof vor dem Leichnam verrichtet. ↩
