4.
Hast du dich also aller weltlichen Dinge entschlagen und obliegst beharrlich deinem Gebete, so wirst du in dieser Mühe eher eine große Erquickung sehen und die geringe Drangsal und Anstrengung voll der größten Freude und Erholung finden. Denn würde auch dein Leib und deine Seele stündlich während deines ganzen Lebens solcher Güter wegen verzehrt, was wäre dies? O der unaussprechlichen Erbarmung Gottes! Er gibt sich selbst zum Geschenke denen, die glauben, daß sie in kurzer Zeit Gott als Erbteil erhalten und Gott im Menschenleibe wohnt und der Herr den Menschen zu seiner herrlichen Wohnung hat. Denn wie Gott den Himmel und die Erde dem Menschen zur Wohnung geschaffen, so hat er auch den Leib und die Seele des Menschen zu seiner eigenen Wohnung geschaffen, um im Leibe wie in seinem eigenen Hause zu wohnen und zu ruhen mit der S. 349 geliebten, nach seinem Bilde geschaffenen Seele als seiner holden Braut. „Ich habe euch“, sagt der Apostel, „einem Manne verlobt, euch als reine Jungfrau Christus darzustellen“1. Und wiederum: „Sein Haus sind wir“2. Wie der Eigentümer in seinem Hause sorgfältig alle Güter aufbewahrt, so hinterlegt und verwahrt auch der Herr in seinem Hause, in der Seele und im Leibe den himmlischen Reichtum des Geistes. Es konnten weder die Weisen durch ihre Weisheit noch die Klugen durch ihre Klugheit das erhabene Wesen der Seele erfassen oder von ihr sagen, wie es sich mit ihr verhält. Nur die [vermögen es], denen durch den Heiligen Geist das Verständnis erschlossen und eine genaue Seelenerkenntnis geoffenbart wird. Wohlan, nun schau und unterscheide und erkenne und höre, in welchem Verhältnis sie (= Gott und die Seele) zueinander stehen. Er ist Gott, sie ist nicht Gott. Er der Herr, sie die Magd. Er der Schöpfer, sie das Geschöpf. Er der Bildner, sie das Gebilde. Nichts haben ihre beiderseitigen Naturen miteinander gemein. Aber in seiner unendlichen, unaussprechlichen und unbegreiflichen Liebe und Barmherzigkeit hat es ihm gefallen, in diesem vernunftbegabten Gebilde und Geschöpfe, in diesem kostbaren und auserlesenen Werke zu wohnen, damit wir, wie die Schrift sagt, „die Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien“3, [zu wohnen] in seiner Weisheit und Gemeinschaft, in seiner eigenen Wohnstätte, in seiner eigenen, reinen Braut.
