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Meine Mutter! Verschieden ist das Leben Gottes und das der Menschen, bzw. das Leben derer, die bei Gott sind, und derer, die auf Erden weilen. Das Sein jener und alles, was zu ihrem Sein gehört, ist unveränderlich und unsterblich; denn wer fest ist, steht fest. Wie aber ist es bei uns? Unser Leben fließt dahin und vergeht und ändert sich immer wieder. Das, was wir Leben und Tod nennen, scheint zwar großer Gegensatz zu sein, geht aber ineinander über und löst sich ab. Das Leben nimmt seinen Anfang in der Vergänglichkeit, d. i. in der Mutter; es schreitet fort durch Vergänglichkeit, da es stets von neuem aus der Gegenwart ersteht; es endet in Vergänglichkeit, in der Auflösung dieses Lebens. Da der Tod von den irdischen Leiden befreit und oftmals zum himmlischen Leben führt und mehr dem Namen nach als in der Tat furchtbar ist, verdient er wohl eigentlich nicht seine Bezeichnung. Wir geraten in törichte Leidenschaft, wenn wir das fürchten, was nicht schrecklich ist, und dem freudig nachjagen, wovor man sich fürchten sollte. Nur der lebt, der nach dem Leben ausschaut. Nur der stirbt, der sündigt; denn die Sünde ist der Tod der Seele. Andere Güter, auf welche die Leute stolz sind, sind Traumgebilde, welche der Wahrheit spotten, und Erscheinungen, welche die Seele täuschen. Wenn wir dies bedenken, o Mutter, dann macht uns weder das Leben übermütig, noch das Sterben übermäßig traurig. Geht es uns denn schlecht, wenn wir das irdische Leben S. 390 einmal mit dem ewigen eingetauscht haben, wenn wir, befreit von dem unsteten, trügerischen, unmäßigen, schmählich ausbeutenden Leben, als kleine Lichter das große Licht umschwärmen und dort sein werden, wo nichts in Fluß ist, alles Bestand hat?
