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18. Was soll ich aber von denen sagen, welche glauben, daß die Heimgegangenen der Annehmlichkeit des Lebens beraubt seien? Es gibt ja eigentlich gar keine Annehmlichkeit bei diesen Bitterkeiten und Schmerzen, unter denen unser Leben hingeht, und die entweder aus der Schwäche des Körpers selbst oder aus der Ungunst äußerer widerwärtiger Verhältnisse hervorgehen. Immer sind wir geängstigt und gleichsam angewiesen auf die bloßen Wünsche nach glücklicheren Zeiten; unsicher fluthen wir umher, und unser Hoffen bietet Zweifelhaftes für Gewisses, Unfälle statt Glückliches, Wankendes statt fester Verhältnisse: so fehlt unserem Willen die Macht, unseren Wünschen die Sicherheit. Wenn dann Etwas gegen unseren Willen geschieht, so halten wir uns für verloren; wir werden weit mehr durch den Schmerz des Unglücks niedergebeugt, als wir des Genusses im Glücke froh werden. Welcher Güter entbehren denn nun diejenigen, welche eigentlich doch mehr dem Ungemach entrissen sind?
19. Eine gute Gesundheit — ich glaube das wohl — erfreut mehr, als eine schlechte quält. Der Reichthum bietet größeren S. 369 Genuß, als Dürftigkeit belästigen kann; die Huld der Kinder gewährt mehr Liebensseligkeit, als ihr Verlust Trauer hervorruft; die Jugend ist reicher an Freuden als das Alter an Trauer. Oft genug aber stellt der Widerwille an den eigenen Wünschen sich ein: man bereut es, gewünscht zu haben; man fühlt Schmerz, wenn man das erlangt hat, was man fürchtete nicht zu erlangen. Die Verbannung aber und alle die anderen Bitterkeiten des Leides: welches Vaterland, welche Lust kann sie aufwägen? Wird ja die Lust, selbst wenn sie kommt, doch wieder geschwächt entweder durch das Gefühl, sie nicht genießen, oder durch die Furcht, sie verlieren zu können.
20. Angenommen aber, Jemand bliebe ganz ohne Anstoß, frei von jedem Schmerze, festgewurzelt gewissermaßen in allen Freuden eines menschlichen Lebenslaufes: was kann dann die Seele eigentlich für Nutzen erlangen, eingeschlossen in das Gefüge des Leibes, gehalten in der Haft der Glieder? Wenn schon unser Leib den Kerker flieht und Alles verabscheut, was die Möglichkeit des freien Umherschweifens beeinträchtigt; wenn unser Leib immer mit seinen armen schwachen Sinnen über sich hinaus zu eilen scheint, um zu hören und zu sehen: um wie viel mehr drängt es dann unsere Seele, diesem Gefängniß des Leibes zu entrinnen, da sie ja frei ist wie die Bewegung der Luft, so daß wir nicht wissen, wohin sie zieht, woher sie kommt!
21. Wir wissen, daß die Seele den Körper überlebt und daß sie, wenn der Riegel des körperlichen Sinnes weggeschoben ist, ungehindert in freiem Aufblicke erkennt, was sie vorher, eingeschlossen im Körper, nicht sah. Das können wir schon Beispiels halber an dem Schlafenden erfahren: seine Seele erhebt sich aus dem in Ruhe gleichsam begrabenen Leibe zu höheren Dingen und kann diesem Kunde bringen von Gesichten ferner und selbst himmlischer Dinge. Wenn nun der Tod des Leibes uns von den Mühseligkeiten der Zeit befreit, so kann er kaum ein Uebel sein, da er uns die Freiheit zurückgibt, den Schmerz aber für alle Zukunft ausschließt.
22. S. 370 Hier bietet sich uns die Gelegenheit, darzuthun, daß der Tod als ein Uebel nicht bezeichnet werden kann, weil er eben der Zufluchtsort gegen alle Bedrängnisse und Qualen ist, der zuverlässige Hafen der Ruhe und Sicherheit. Wo gibt es eine Widerwärtigkeit, die wir in diesem Leben nicht erfahren müßten? Welche Stürme und Ungewitter ertragen wir nicht? Von welchem Ungemach werden wir nicht umhergeworfen? Wo ist das Verdienst, das Schonung erfährt?
23. Der heilige Patriarch Jakob mußte fern vom Vaterland, vom Bruder, von den Eltern flüchtig umherirren; er tauschte die Heimat mit der Verbannung; er hatte die Schändung seiner Tochter, den Tod des Eidam zu beweinen; er hatte Hunger und Elend zu ertragen, und nach dem Tode mußte er seine Grabstätte wieder verlassen; er hatte ja die Seinigen beschworen, als sollte er selbst im Tode nicht ruhen, seine Gebeine nach Kanaan hinüberzuführen.
24. Der heilige Patriarch Joseph mußte den Haß seiner Brüder, die Nachstellungen des Neides, die Willfährigkeit der Diener, die gebieterischen Anordnungen der Käufer erdulden; er mußte die Lüsternheit seiner Herrin, die unüberlegte Handlungsweise seines Gebieters, die Bitterkeiten des Kerkers erfahren.
25. David verlor zwei Söhne: den Einen als Blutschänder, den Andern als Brudermörder. Tiefe Schmach, solche Kinder besessen, herber Schmerz, sie verloren zu haben! Den dritten, den er so sehr liebte, hat er schon in dessen Kindheit verloren. Diesen letzten beweinte er, während derselbe noch lebte; als er gestorben, sehnte er ihn nicht zurück. So lesen wir ja in der heiligen Schrift: „David flehte zu dem Herrn um das Kind, und er fastete und zog sich zurück und lag auf der Erde; es kamen aber die Aeltesten seines Hauses und drangen in ihn, aufzustehen von der Erde; er aber wollte nicht und aß keine Speise mit ihnen.“ Als er aber erfahren hatte, daß das Kind gestorben, da stand er auf von der Erde, wusch und salbte sich, wechselte die Kleider, betete den Herrn an und nahm wieder Speise. Als das S. 371 aber seinen Dienern wunderlich erschien, sagte er ihnen, daß er mit vollem Rechte, so lange das Kind noch lebte, gefastet und geweint habe, weil er überzeugt gewesen, daß der Herr sich erbarmen und das Leben des Kindes erhalten könne, da er ja auch Gestorbene ins Leben zurückrufe. „Nun aber, sprach er, da der Tod erfolgt ist, warum sollte ich fasten? Kann ich es denn wieder zurückrufen? Ich werde wohl zu ihm gehen, aber es wird nicht zu mir zurückkehren.“1
II. Kön. 12, 18 ff. [= 2. Samuel]. ↩
