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Geliebteste! Da Ostern naht, so beginnt jetzt nach alter Sitte die ihm vorangehende Fastenzeit, deren vierzig Tage man eifrig zur Heiligung seines Leibes und seiner Seele benützen soll! Wenn wir nämlich das größte aller Feste feiern wollen, so müssen wir uns durch ein solches Kasteien darauf vorbereiten, daß uns die Leidenswoche des Herrn mit d e m im Tode vereint findet, der uns durch seine Auferstehung auch die unsrige S. 254gebracht hat. Sagt doch der selige Apostel Paulus: "Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, erscheinen wird, dann werdet auch ihr mit ihm erscheinen in Herrlichkeit"1 . Worin aber besteht für uns die Teilnahme am Tode Christi? Doch nur darin, daß wir aufhören zu sein, was wir waren. Und worin besteht die Ähnlichkeit mit seiner Auferstehung? Eben darin, daß wir den alten Menschen ablegen. Wer also das Geheimnis seiner Erlösung recht versteht, der muß den Lastern des Fleisches entsagen und allen Schmutz der Sünde von sich weisen, um beim Hochzeitsmahle in glänzendem Tugendkleide zu erscheinen. Denn wenn auch die Güte des Bräutigams alle zur königlichen Tafel ruft, so müssen doch die Geladenen insgesamt darnach streben, der ihnen vorgesetzten heiligen Speisen auch würdig zu sein. Nun mißbrauchen aber manche die Langmut Gottes und wähnen sich viele, die in ihrem Gewissen nicht schuldlos sind, darum in Sicherheit, weil sie solange straflos bleiben. Und doch wird die Vergeltung nur aus d e m Grunde vertagt, damit wir Zeit zur Umkehr haben. Niemand soll also deshalb, weil ihn die verdiente Strafe noch nicht ereilt hat, zögern, zur Barmherzigkeit unseres Gottes seine Zuflucht zu nehmen, zu jener Barmherzigkeit, die nicht den Tod des S. 255Sünders will, sondern daß er sich bekehre und lebe!2 . Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Noch über jeden, der nicht Verzeihung suchte, ist das Strafgericht hereingebrochen. Freilich besteht nicht für alle der gleiche Anlaß, Gott um Nachsicht zu bitten, da sich die einzelnen Vergehen und Missetaten nach Art und Anzahl vielfach voneinander unterscheiden. Nun soll aber die Gesamtheit der Gläubigen nach vollkommener Unschuld und makelloser Reinheit streben, um so der Gemeinschaft derer würdig zu werden, von denen es heißt: "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen!"3 . Darum muß man sich auch mit aller Kraft und allem Nachdruck bemühen, durch sorgfältigste Säuberung zu entfernen, was die geheimsten Winkel unseres Herzens befleckt oder den Glanz unserer Seele trübt. Obgleich geschrieben steht: "Wer kann sich rühmen, daß er ein reines Herz habe oder frei von Sünde sei?"4 brauchen wir doch nicht die Hoffnung aufzugeben, rein werden zu können. Nie bleibt unerhört, wer unablässig darum bittet5 . Auch kommt das nicht mehr vor das Gericht, wovon man sich durch ein Bekenntnis freigemacht hat".
