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Geliebteste! Unter allen Tagen, denen der fromme Christ auf mannigfache Art seine Verehrung erweist, steht keiner höher als der des Osterfestes, durch den die Würde aller Feierlichkeiten in der Kirche Gottes ihre Weihe erhält. So diente ja selbst die leibliche Geburt des Herrn nur zur Verwirklichung des Ostergeheimnisses. War doch für den Sohn Gottes die Möglichkeit der Kreuzigung der einzige Grund seiner Menschwerdung. Im Schoße der Jungfrau wurde das sterbliche Fleisch empfangen und im sterblichen Fleische das geplante Leiden vollendet. Nach dem unbeschreiblichen Ratschluß der Barmherzigkeit Gottes brachte uns das Erlösungsopfer Tilgung der Sünde und den Beginn unserer Auferstehung zum ewigen Leben. Beherzigen wir nun, was die gesamte Welt dem Kreuze des Herrn zu verdanken hat, dann erkennen wir auch, daß wir uns gebührenderweise auf die Osterfeier durch das vierzigtägige Fasten vorbereiten müssen, um an den göttlichen Geheimnisse würdig Anteil nehmen zu können. Ist es doch nötig, daß nicht allein die an der Spitze stehenden Bischöfe und Priester zweiten Ranges, daß nicht nur die Diener der Sakramente, sondern auch der ganze Leib der Kirche und die gesamte Schar der Gläubigen von jeder Befleckung rein sind. So soll der Tempel Gottes, dessen Grund sein Gründer selber ist1 , aus lauter herrlichen Steinen bestehen und in jedem seiner Teile im reinsten Licht erstrahlen! Schon die Paläste der Könige und die Amtssitze höherer Behörden werden berechtigterweise mit allem Schmucke ausgestattet, damit S. 242die eine herrliche Wohnung haben, deren Verdienste hervorragender sind. Wieviel Mühe muß man da erst auf die Anlegung jener Stätte verwenden, die Gott selbst bewohnen soll, und mit welcher Pracht hat man sie zu zieren! Wenn auch dieses Haus nicht ohne seinen Baumeister begonnen und vollendet werden kann, so wurde ihm doch von diesem Baumeister die Möglichkeit gegeben, auch selbst etwas zum Ausbau beizutragen. Sind es doch „lebendige“ und „vernunftbegabte“ Steine, die zur Aufführung dieses Tempels verwendet werden2 . Ist es doch der Geist der Gnade, der sie veranlaßt, sich freiwillig zu einem Ganzen zusammenzufügen. Diese Steine wurden deshalb „geliebt“ und „gesucht“, damit auch sie selbst aus solchen, die nicht suchten, zu Suchenden, und aus solchen, die nicht liebten, zu Liebenden würden. So sagt der selige Apostel Johannes: „Laßt uns also einander lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat!“3 . Da also einerseits alle Gläubigen zusammen , andererseits alle wieder für sich allein ein und denselben „Tempel Gottes“ bilden4 , so muß dieser vollkommen im einzelnen und vollkommen im ganzen sein. Wenn auch nicht sämtliche Glieder gleich schön sind, wenn auch bei so verschiedenen Teilen die Verdienste nicht ein und dieselben sein können, so gehören doch alle, die das Band christlicher Liebe umschlingt, zu diesem herrlich geschmückten Tempel. Die durch solche Liebe Geeinten freuen sich gegenseitig über die verliehenen Gaben, selbst wenn nicht alle die gleichen Gnadengeschenke genießen. Was sie aber5 schätzen, das kann auch ihnen nicht fremd bleiben; denn wer das Vorwärtsschreiten des Nächsten gerne sieht, der bereichert sich selbst durch eigenes Wachstum.
