9. Cap. Nähere Beschreibung des Seelenkörpers. Derselbe aus einer Montanistischen Vision erwiesen.
Wenn wir behaupten, dass der Seelenkörper von besonderer Beschaffenheit und eigener Art sei, so dürfte bereits dieser Umstand, die Eigenart, in betreff der übrigen Accidenzien der Körperlichkeit ein Präjudiz dafür geben, dass er, dessen Körper wir bewiesen haben, deren ebenfalls besitze,1 dass aber auch sie von eigener Art sind entsprechend der Eigentümlichkeit des Seelenkörpers, oder aber wenn etwa keine vorhanden sind, eben dies zu seiner Besonderheit gehöre, dass der Seelenkörper nicht hat, was die andern Körper haben. Trotzdem werden wir beharrlich behaupten, dass die Seele alle gewöhnlicheren und die durchaus notwendigen Eigenschaften der Körperlichkeit besitze, wie z. B. das Aussehen, die Begrenzung und die dreifache Ausdehnung, nämlich Länge, Breite und Höhe, wonach die Philosophen den Körper messen.
S. 299 Wie aber, wenn wir auch ein Bild der Seele zuliessen, Plato zum Trotz, der es nicht zugeben will, weil die Unsterblichkeit der Seele dadurch in Gefahr käme?! Denn alles Abzubildende, behauptet er, sei zusammengesetzt und gefügt; alles Zusammengesetzte und Gefügte sei auflösbar; die Seele aber sei unsterblich. Folglich sei sie unauflösbar, weil unsterblich und unabbildbar, weil unauflöslich. Sie würde aber zusammengesetzt und gefügt sein, wenn sie abbildbar wäre. Er schildert sie gleichsam auf eine andere Weise ab in bloss intellektuellen Formen: als schön infolge der Gerechtigkeit und des philosophischen Unterrichts, hässlich hingegen durch das Gegenteil davon.
Wir legen ihr leibliche Umrisse bei, nicht bloss infolge unseres Glaubens an ihre Körperlichkeit im Wege des Schlusses, sondern mit der Zuversicht der Gnade infolge einer Offenbarung. Denn weil wir geistige Charismen gelten lassen, so haben wir die Prophetengabe zu erlangen verdient, auch noch nach Johannes.2 Es befindet sich gegenwärtig bei uns eine Mitschwester, welcher das Charisma der Offenbarungen zuteil geworden ist, die sie in der Kirche während der Sonntagsfeier durch Verzückung im Geiste erhält. Sie verkehrt mit den Engeln, zuweilen auch mit dem Herrn, sie sieht und hört Geheimnisse, unterscheidet zuweilen die Herzen und gibt denen, die es verlangen, Heilmittel an. Ferner, je nachdem Schriftstellen gelesen, Psalmen gesungen oder Anreden gehalten werden, bieten sich ihr aus ihnen Gegenstände zu Visionen dar. Zufällig hatte ich einmal, ich weiss nicht mehr was, über die Seele vorgetragen, als über diese Schwester der Geist kam. Gemäss ihrer Gewohnheit, uns mitzuteilen, was sie geschaut hat — ich erzähle dies sorgfältig, damit es geprüft werde — sagte sie nach Vollendung des Gottesdienstes und Entlassung des Volkes: Unter anderem wurde mir die Seele in leiblicher Gestalt gezeigt und der Geist war sichtbar, nicht entleert und in hohler Beschaffenheit, nein, so, dass er sich auch festhalten zu lassen versprach, zart, lichtartig, luftfarben und in vollkommen menschlicher Gestalt.3 Dies die Vision; Gott ist Zeuge und der Apostel hinlänglich Bürge für das künftige Vorhandensein von Charismen in der Kirche — und da wollte man, wenn die Sache selbst in den Einzelheiten in so überzeugender Weise auftritt, nicht einmal glauben?!
Denn wenn die Seele ein Körper ist, so ist sie ohne Zweifel innerhalb der Dinge, die wir oben angegeben haben. Auch die Farbe als Eigenschaft hängt jeglichem Körper an. Welche Farbe also wolltest du sonst bei der Seele annehmen, als die der Luft und des Lichtes? Nicht S. 300 dass die Luft selbst die Substanz der Seele wäre, obschon es dem Änesidemus und Anaximenes, nach einigen vermutlich auch Heraklit so geschienen hat, noch auch das Licht, obschon es dem Heraklides aus Pontus so gefällt. Der Keraunius4 hat darum keine feurige Substanz, wenn er auch in rötlicher Farbe schillert, noch der Beryll darum einen wässerigen Stoff, weil er in geläutertem Schimmer schwimmt. Wie viele andere Dinge gleichen sich in der Farbe, werden aber durch ihre Wesenheit weit auseinander gehalten! Weil alles Feine und Durchsichtige mit der Luft verwechselt werden kann, so könnte es auch die Seele, insofern sie ein Hauch und übertragener Atem ist. Läuft sie ja doch wegen ihrer Feinheit und Dünnheit Gefahr, selbst hinsichtlich ihrer Körperlichkeit verkannt zu werden.
So mache dir denn nun auch in betreff ihres Bildes einen Begriff aus deiner eignen Wahrnehmung, dass das Bild der menschlichen Seele für kein anderes gehalten werden dürfe, als eben für das menschliche, und zwar das Bild desjenigen Körpers, den eine jede mit sich umhertrug. Dies so zu verstehen, mögen wir vorläufig durch die Betrachtung ihres Ursprunges bewogen werden. Vergegenwärtige dir nämlich folgendes: Als Gott den Hauch des Lebens in das Angesicht des Menschen blies und der Mensch zur lebendigen Seele geworden war, wurde sofort jener Hauch vollständig durch das Gesicht in sein Inneres hinübergeleitet, ergoss sich durch alle Räume des Körpers, verdichtete sich zugleich durch göttliche Nachhilfe, drückte jede der Grenzlinien aus, die er, drinnen verdichtet, ausgefüllt hatte und erstarrte gleichsam wie in einer Form. Damit also wurde die Körperlichkeit der Seele kraft der Verdichtung befestigt und ihr Bild durch das Abdrücken geformt.
Das wäre der innere Mensch; ein anderer ist der äussere, in beidem einer. Auch jener hat seine Augen und Ohren, womit das Volk5 den Herrn hätte sehen und hören sollen, sowie die übrigen Glieder, deren er sich in Gedanken bedient und die er bei Träumen gebraucht. So hat denn auch der reiche Prasser in der Unterwelt eine Zunge, der Arme Finger und Abraham einen Schooss.6 An diesen Umrissen werden auch die Seelen der Martyrer unter dem Altare erkannt. Denn die von Anfang an in Adam mit dem Körper verwachsene und mit ihm geformte Seele war der Same wie der ganzen Gesamtsubstanz so auch der in Rede stehenden Seinsweise.
Nach der Korrektur des Ursinus. Die gewöhnliche Lesart hat haec adesse qua. ↩
Tertullian stellt also die Montanistischen Prophezien mit der Apokalypse auf gleiche Stufe. ↩
Vermutlich war die Vision der Wiederhall des zuvor von ihr angehörten Vortrages Tertullians. ↩
Ein roter Edelstein, Katzenauge. ↩
Paulum mit Rücksicht auf II. Kor. 12, 2—4 statt populum zu setzen ist eine unnötige Konjektur des Ursinus. ↩
Luk, 16, 23; Offenb. 6, 9. ↩
