15. Cap. Das sogenannte Hegemonikon, die höchste und vitale Region der Seele, wo sich alle Thätigkeiten konzentrieren, hat nach der Lehre vieler Philosophen und Ärzte, wie auch der hl. Schrift seinen Sitz im Herzen.
Zunächst die Frage, ob es in der Seele eine gewisse höchste Region gibt, welche die vitale und der Sitz des Denkens ist, das sogenannte Hegemonikon oder das Oberste; denn wenn dieses in Abrede gestellt wird, so ist es um die ganze Seele geschehen. Diejenigen, welche dieses Oberste leugnen, haben zuvor die Seele selbst schon für nichts erklärt. Ein gewisser Dikäarchus aus Messenien, unter den Ärzten aber Andreas und Asklepiades, haben das Oberste dadurch beseitigt, dass sie die Sinne, für welche eben ein Oberstes behauptet wird, in den animus selbst verlegen. Asklepiades reitet auch auf dem Scheinbeweise herum, dass viele Tiere noch geraume Zeit leben und selbst dann noch empfinden, wenn man sie der Teile beraubt, worin nach der gewöhnlichsten Meinung das Oberste seinen Sitz hat, wie z. B. die Fliegen, Wespen und Heuschrecken, wenn man ihnen die Köpfe abschneidet, die Ziegen, Schildkröten und Aale, wenn man ihnen die Herzen herauszieht. Daher gebe es gar kein Oberstes; denn wenn es ein solches gebe, so würde die Lebenskraft der Seele mit ihrem Sitz verloren gehen und nicht fortdauern.
Allein gegen den Dikäarchus stehen mehrere, sowohl Philosophen, wie Plato, Strato, Epikur, Demokrit, Empedokles, Sokrates, Aristoteles, als auch Ärzte gegen den Andreas und Asklepiades, nämlich Herophilus, Erasistratus, Diokles, Hippokrates und Soranus selbst, endlich auch wir Christen, die wir zahlreicher sind als sie alle, wir werden in betreff beider Punkte von Gott dahin belehrt, dass es in der Seele ein Oberstes gebe, und dass dieses zweitens in einen bestimmten Ort des Körpers gebunden sei. Denn wenn wir lesen, dass Gott der Erforscher und Beobachter des Herzens sei, wenn sein Prophet daran erprobt wird, dass er der Geheimnisse des Herzens überführt, wenn Gott selbst den Gedanken des Herzens bei seinem Volke zuvorkommt: „Warum denkt ihr in Euren Herzen Böses?”,1 wenn David sagt: „Erschaffe in mir ein reines Herz, o Gott!”2 und Paulus, „dass man mit dem Herzen glaube zur Gerechtigkeit”,3 und Johannes, „dass ein jeder von seinem eigenen Herzen zurechtgewiessen werde,”4 wenn schliesslich einer, „der eine Frau ansieht, um ihrer zu begehren, in seinem Herzen bereits die Ehe gebrochen hat,”5 — dann leuchtet zugleich beides ein, erstens, dass es in der Seele ein Prinzipales gebe, an welches die göttliche Absicht sich wendet, d. h. ein Empfindungs- und Lebensvermögen — denn was empfindet, das ist auch lebendig, — und dass es zweitens in der Schatzkammer des Körpers enthalten sei, auf welche Gott hinblickt.
S. 309 Daher wird man nicht mit Heraklit annehmen, jenes Prinzipale werde von aussen her bewegt, noch mit Moschion, es sei durch den ganzen Körper verbreitet, noch mit Plato, dass es im Kopfe eingeschlossen sei, noch mit Xenokrates, es habe vielmehr im Scheitel seinen Sitz, noch mit Hippokrates, es ruhe im Gehirn, auch nicht in der Basis des Gehirns, wie Herophilus will, noch in den Häutchen desselben, wie Strato und Erasistratus sagten, noch in der Mitte zwischen den beiden Augenbrauen, wie der Physiker Strato will, noch im Brustkasten im ganzen, wie Epikur, sondern dass es das sei, was schon die Ägypter und die vermeintlichen Erklärer der Orakelsprüche als solches bezeichneten, sowie auch der bekannte Vers des Orpheus oder Empedokles: „Das das Herz umströmende Blut bildet beim Menschen die geistige Wahrnehmung.”6Auch Protagoras, Apollodorus und Chrysippus denken so. Sogar von solchen Leuten zurückgewiesen, weiss Asklepiades nicht, wo er mit seinen Ziegen ohne Herzen, die doch blöken, bleiben soll; er jagt seine Mücken, die ohne Kopf fliegen, fort, und alle, welche über die Einrichtung der menschlichen Seele aus der Beschaffenheit der Tiere Schlüsse ziehen wollen, sind instand gesetzt einzusehen, dass sie selbst es sind, die leben, ohne Herz und Hirn zu haben.
