Sechsundwanzigster Vortrag: Über die Stelle: „Und ein Vorsteher der Synagoge, namens Jairus, kam zu ihm und fiel, als er ihn sah, ihm zu Füßen...“ bis: „und sie fühlte es am Leib, dass sie von der Krankheit geheilt war.“ Mk 5,22-29
Heute sollt ihr, Brüder, hören und durch den Bericht des Evangelisten Markus zugleich mit mir erkennen, wie der Vorsteher der Synagoge vor Christus niederfällt und hinstürzt, und wie er ihn in zweifacher Hinsicht als Gott und Herrn bekennt, indem er ihn anbetet nach der Vorschrift des Gesetzes: „Du sollst den Herrn deinen Gott anbeten“1 und dann ihn als den Wiederbringer des Lebens bezeichnet, indem er ihn um die Heilung seiner sterbenden Tochter bittet. „Und ein Synagogenvorsteher namens Jairus, kam zu ihm und fiel, als er ihn sah, ihm zu Füßen und bat ihn sehr und sprach: 'Meine Tochter liegt in den letzten S. 149Zügen, komme, lege ihr deine Hand auf, damit sie gerettet werde und lebe'“2 . Bevor die Predigt das Geheimnis des evangelischen Sinnes eröffne, möge es gestattet sein, an dieser Stelle ein wenig zu sprechen über die Leiden der Eltern, die sie auf sich nehmen und ertragen3 aus Zuneigung und Liebe zu ihren Kindern. Umgeben von der Familie, unter der zärtlichen und liebevollen Pflege der Verwandten liegt die Tochter auf weichem Lager. Der Vater, ganz gebeugt, liegt und wälzt sich auf dem harten Boden. Der Tochter schwindet der Leib dahin, diesem zugleich auch Verstand und Gemüt. Jene trägt die verborgenen Leiden ihrer Krankheit, dieser stürzt sich in schmutzigem Trauergewande wild mitten durch das Volk. Jene stirbt zur Ruhe, dieser lebt zur Pein. Mit Absicht haben wir die ängstlichen Sorgen der Eltern zur Zeit der Geburt der Kinder übergangen: die gefahrbringenden Ordnungen [der Gestirne], wenn das Kind geboren wird, die mühevollen Anstrengungen bei seiner Ernährung, die fortwährenden Schmerzen bei seiner Erkrankung. Denn schlimmer noch erscheint ihnen der Todestag, wenn ihnen die Kinder im Tode vorangegangen sind. O! Warum kennen die Kinder so große Leiden nicht? Warum fühlen sie sie nicht? Warum mühen sie sich nicht ab, es den Eltern wieder zu vergelten? Und dennoch bleibt der Eltern Liebe; denn was immer die Eltern für die Kinder aufwenden, wird Gott der Vater aller, den Eltern wieder vergelten. Doch wollen wir auf unser Vorhaben zurückkommen.
„Und ein Synagogenvorsteher, namens Jairus, kam zu ihm und fiel, als er ihn sah, ihm zu Füßen und bat ihn sehr und sprach: 'Meine Tochter liegt in den letzten Zügen; komm, lege ihr deine Hand auf, damit sie gesund werde'“4 . Dadurch, dass er mit tränenerstickter Stimme so sehr die letzten Augenblicke seiner Tochter beklagt, S. 150dass er das Heilmittel für ihre Krankheit so [heiß] erflehte, beweist er zur Genüge seine [wenn auch] verzweifelte Liebe. Daher kommt es auch, dass er also den genauen Verlauf der Heilung mit seiner Forderung angibt, indem er spricht: „Komm, lege deine Hand auf sie!“ Der Kranke schreibt nicht vor, wie er geheilt werden solle, sondern bittet nur, daß er geheilt werde. Aber als Synagogenvorsteher kennt er das Gesetz und mußte unter anderem auch gelesen haben, dass der Mensch durch die Hand Gottes gebildet war. Er glaubte also Gott, dass er mit derselben Hand, mit der er, wie er glaubte, seine Tochter geschaffen hatte, sie auch wiedererschaffen und wiederzu ückführen könne zum Leben. Jetzt erkennen wir, was er sagen wollte: „Komm, leg ihr deine Hand auf“, nämlich dass er, der aus freien Stücken seine Hand erhoben hatte, um zu schaffen, seine Hand nur, wenn er gebeten ist, erhebt, um [das Leben] wiederherzustellen. Dies bekennt auch der Prophet, wenn er in den Psalmen singt: „Du hast mich gebildet und deine Hand auf mich gelegt“5 . Denn der [seine Hand] legte, als er die Schöpfung aus nichts vollzog, legte [sie] wiederum auf, um das Verdorbene wiederherzustellen. Darum bricht derselbe Psalmist, als er diese heilende Hand [an sich] erfuhr und ihre Wohltaten empfing, immer wieder in die Worte aus: „Die Rechte des Herrn hat Wunder getan; die Rech te des Herrn hat mich erhöht; die Rechte des Herrn hat Wunder getan!“6 . Und um zu zeigen, dass er das, was der Synagogenvorsteher gefordert hatte, selbst erlangt habe, fügt er bei:
„Ich werde nicht sterben, sondern leben!“7 . Jener sprach, als er flehte: „Komm, lege ihr deine Hand auf, damit sie gesund werde und lebe!“ Dieser jubelt auf, als er erhört ist: „Ich werde nicht sterben, sondern leben!“ Die Rechte des Herrn ist Christus, wie wir belehrt werden durch den Mund des Propheten: In Wahrheit „hat diese Rechte Wunder getan“, als sie den Teufel besiegte8 , als er, wie er selbst gesagt hat, den S. 151Mächtigen fesselte und ihm seine Rüstung nahm9 ; als er die Hölle zu Boden warf, als er den Tod selbst tötete. Und nun hat diese Rechte uns erhöht, als sie uns aus der Tiefe erhob und zum Himmel hinauftrug10 . Doch unsere Predigt möge übergehen zu dem Weibe, das für ihre geheime Wunde, für ihre schamerregende Krankheit ein solches Heilmittel suchte, dass sie sowohl ihr Erröten bedecken könne als auch ihre Scheu vor dem Arzte nicht zu verletzen brauche. „Und er ging fort mit ihm, und viel Volk“, so heißt es, „sorgte ihm, und sie drängten sich um ihn. Und sieh, ein Weib, das zwölft Jahre am Blutfluße litt und viel unter vielen Ärzten ausgestanden und all das Ihrige dazu verwandt und doch keine Besserung gefunden hatte, sondern sich vielmehr schlimmer befand, kam, da sie von Jesus gehört hatte, unter dem Volke von rückwärts heran und berührte sein Kleid. Denn sie sagte sich: 'Wenn ich nur sein Kleid berühre, werde ich gesund sein.' Und sogleich hörte ihr Blutfluß auf, und sie fühlte es am Leibe, dass sie von der Krankheit geheilt sei“11 .
Nicht werden zwei Meere so aufgewühlt, auch wenn sich ihre Wogen gewaltsam mischen, als die Seele dieses Weibes hin und her geworfen wurde von einander widerstreitenden Gedankenmassen. Nach dem verzweifelten Bemühungen der Ärzte, der Aufwendung kostspieliger Arzneien, nach vergeblicher und langwieriger Behandlung der Ärzte Kunst und Erfahrung erschöpft, als der Kranken Vermögen bereits ganz aufgezehrt war, da fügte es Gottes Wille, nicht der Zufall, dass diese schamerregende Wunde dem Schöpfer selbst [zur Heilung] gebracht wurde, damit, was menschliche Kunst in so vielen Jahren nicht heilen konnte, nun geheilt würde durch Glauben und Demut allein. Das Weib stand abseits, weil natürliche Scham sie zurückhielt; denn das jüdische Gesetz erklärte sie deshalb für unrein: „Eine solche sei unrein und soll das S. 152Heilige nicht berühren“12 . Daher fürchtete sie, sie möchte der Wut der Juden und der Verurteilung durch das Gesetz verfallen. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen, damit die nicht das Ohr der Umstehenden aufrege und belästige, damit sie nicht noch zum Gespötte der Leute würde, nachdem sie schon so lange Jahre hindurch der Schaukampfplatz13 großer Leiden gewesen war. Und doch: es weiter zu ertragen und auszuhalten, ließ der Schmerz nicht zu, der alle Tage und ununterbrochen in ihr wütete. Zum Überlegen hatte sie keine Zeit, weil der Christus so schnell vorübereilte. Und so meinte sie auch, dass, wenn sie schwieg, wenn sie ihm ihre Krankheit nicht offenbarte, die Gesundheit ihr nicht zuteil werden würde. In diesem Widerstreit der Gedanken fand das Weib den einzigen rettenden Weg, um sich die Heilung zu stehlen, um stillschweigend zu erhaschen, was sie wegen ihres eigenen Schamgefühls und aus Ehrfurcht vor dem Helfer nicht [laut] erflehen konnte, um auf diesem Wege zwar nicht körperlich, aber doch im Herzen zum Arzte zu kommen, um nur im Glauben Gott, mit der Hand nur sein Kleid zu berühren. Sie war überzeugt, dass dieser [fromme] Betrug ihr nicht nur Verzeihung, sondern auch Heilung verschaffen würde. Denn nicht ihr Wille, sondern der Zwang ihres Schamgefühls hatte ihn erfunden, zumal er doch der Diebin einen Gewinn, dem aber, der bestohlen wurde, keinen Schaden eintrug. Ein frommer Raub ist es, für den der Glaube das Werkzeug und die treibende Kraft war. Seht da einen Fall, in dem die Tugend erworben wird durch das Gegenteil, wo der Betrug das Erstrebte erlangt, da der Glaube ihn gutheißt!
Das Weib begibt sich unter die Drängenden, um nicht gesehen zu werden, und vertraut darauf, Heilung sich stehlen zu können durch den Glauben allein. Und damit ihr Kleid und ihre Haltung sie nicht verrate, tritt sie von rückwärts heran; sie hält sich nicht für würdig S. 153gesehen zu werden. Und so heilt der Glaube in einem Augenblick, was Menschenkunst in zwölf Jahren nicht hatte heilen können. Und nach einem solchen Vorbild schleppt man noch lange Zeit hindurch aus eigener Schuld sich in Krankheiten herum und leidet infolge eigener Trägheit, weil man nicht durch den Glauben allein, sondern durch Aufwendung von Salbereien geheilt werden will!14 . Das Weib berührte nur das Kleid und wurde geheilt; von dem alten Leiden wurde sie ganz erlöst. O wir Unseligen, die täglich den Leib des Herrn in unseren Händen tragen15 und genießen, wir werden nicht geheilt von unseren Wunden! Nicht Christus mangelt uns Kranken, sondern der Glaube, denn viel eher wird er, da er stets bei uns bleibt16 , unsere Wunden heilen können, wenn er schon im Vorübergehen das sich verbergende Weib geheilt hat. Brüder! Für heute möge genügen, den Diebstahl des Glaubens und die Wundertat des vorübergehenden Herrn erzählt zu haben. Warum aber der Herr fragte, gleichsam als kannte er sie nicht, von der er doch wußte, dass sie durch seine Kraft geheilt worden war, das wollen wir, weil es17 zu lang ist, in einer folgenden Predigt behandeln.
Dt 6. 16 ↩
Mk 5,22-23 ↩
ich lese mit Januel perferunt statt proferunt ↩
Mk 5,22-23 ↩
Ps 117,16 [posuisti] ↩
ebd. ↩
Ps 117,17 ↩
Mt 4,1-11 ↩
vgl. Mt 12,29 ↩
vgl. Eph 2,4ff ↩
Mk 5,24-29 ↩
Lev 14,36 ↩
scamma: Renn- und Kampfplatz, cfr. Tertull. ad martyr. 2,3 ad scamma producere ↩
Vielleicht eine Anspielung auf die Manichäer, die eine eigene Taufe mit Öl und eine Art Abendmahl ohne Wein als Aufnahmesymbol feierten ↩
in der ältesten Zeit wurde den Gläubigen zum Empfange der hl. Eucharistie diese in die rechte Hand gereicht, den Männern auf die bloße Hand, den Frauen auf ein Leinnentuch ↩
vgl. Mt 28,20 ↩
für diese Rede ↩
