Vierter Artikel. Die Verschiedenheit der Leidenschaften in einem Vermögen der Gattung nach schließt nicht an und für sich den Gegensatz ein.
a) Dies scheint jedoch. Denn: I. Die Leidenschaften unterscheiden sich gemäß den Gegenstände . Diese Gegenstände aber sind: das Gute und das Böse. Also kann inner halb eines Vermögens nur immer das Gute oder das Böse Gegenstand einer Leidenschaft sein; und somit ist da immer ein Gegensatz zwischen der einen und der anderen Leidenschaft. II. Der Unterschied gemäß der Gattung ist der Unterschied, welcher durch die Form begründet wird. Ein jeder solcher Unterschied aber vollzieht sich gemäß der Richtschnur eines Gegensatzes; wie z. B. „vernünftig“ und „vernunftlos“ den Gattungsunterschied zwischen Mensch und Tier herstellt. Stehen also die Leidenschaften ein und desselben Vermögens in keinem Gegensatze zu einander, so unterscheiden sie sich auch gar nicht voneinander der Gattung nach. III. Da eine jede Leidenschaft der Seele in der Annäherung oder in der Entfernung rücksichtlich des Guten oder Bösen besteht, so muß jeder Unterschied in den Leidenschaften sein gemäß dem Unterschiede vom Guten und Bösen oder gemäß dem Unterschiede des Annäherns und des Zurückweichens oder gemäß der größeren oder minderen Annäherung oder Entfernung. Die beiden ersten Unterschiede nun führen den Gegensatz herbei in den Leidenschaften der Seele; der dritte aber begründet keine Verschiedenheit in der Gattung der Leidenschaften, sonst beständen endlos viele Gattungen von Leidenschaften der Seele. Also immer schließt der Gattungsunterschied den Gegensatz zugleich ein. Auf der anderen Seite sind die Liebe und die Freude Leidenschaften, die der Gattung nach voneinander unterschieden sind und dem nämlichen begehrenden Vermögen, der concupiscibilis, angehören. Trotzdem stehen sie aber zu einander in keinem Gegensatze, vielmehr ist die Liebe die Ursache der Freude.
b) Ich antworte, die Leidenschaften sind voneinander unterschieden gemäß den einwirkenden, bestimmenden Principien; also gemäß den Gegenständen. Der Unterschied aber in diesen wirksam bestimmenden Principien kann in zweifacher Weise berücksichtigt werden: einmal gemäß der in diesen Principien befindlichen Natur oder Gattung; wie sich Feuer vom Wasser unterscheidet; — dann gemäß der verschiedenen Art und Weise der wirksamen Kraft selber. Diese Verschiedenheit nun des einwirkenden oder bewegenden Princips, soweit es auf die Kraft etwas in Bewegung zu setzen ankommt, kann in den Leidenschaften der Seele berücksichtigt werden gemäß der Ähnlichkeit in den natürlichen, nicht nämlich gemäß irgend einer Auffassung wirkenden Kräfte. Denn jede bewegende Kraft zieht entweder das, was unter ihrem Eindrucke leidet, an oder treibt es zurück. Im ersten Falle ist ihr Einwirken auf Dreifaches gerichtet. Denn 1. giebt sie dem leidenden Dinge die Neigung oder sie paßt es sich an, damit es zu ihr, der bewegenden Kraft, strebe; wie wenn der leichte Körper, der da oben in der Höhe ist, dieEigenschaft des Leichten dem erzeugten Körper mitteilt, vermittelst deren dieser die Hinneigung hat, daß er oben in der Höhe sei; — 2. wenn der erzeugte Körper außerhalb des ihm eigentümlichen Ortes sich befindet, giebt sie es ihm, zu dem ihm gebührenden, ihm eigenen Orte hin in Bewegung zu sein; — 3. verleiht sie es ihm, daß er an seinem eigensten Orte ruhe, wenn er dahin gelangt ist; da der gleichen Ursache zufolge etwas im Orte ausruht, vermittelst deren es zum Orte hin bewegt wurden Das Nämliche gilt vom Zurücktreiben. Nun hat im Bereiche des Begehrens das Gute eine anziehende, das Böse eine zurücktreibende oder abstoßende Kraft. So verursacht das Gute in dem begehrenden Vermögen zuerst die Hinneigung zum Guten, es paßt sich das begehrende Vermögen an und läßt es gewissermaßen an seiner Natur teilnehmen; und das gehört zur Leidenschaft der Liebe; und von seiten des Bösen entspricht dem der Haß. Sodann verleiht das Gute, ist es noch nicht besessen, die Bewegung, um das geliebte Gute zu erreichen; — und das ist die Leidenschaft des Verlangens; dem von seiten des Bösen entspricht die der Flucht oder des Abscheues. Endlich giebt das Gute, nachdem es erreicht ist, dem Begehren die Ruhe; — und das gehört zur Leidenschaft der Freude oder Ergötzung; und von seiten des Übels entspricht dem der Schmerz oder die Trauer. Die Leidenschaften in der Abwehrkraft aber setzen bereits voraus die Hinneigung oder das Angepaßtsein, um das Gute zu erstreben und das Böse zu fliehen, in der Begehrkraft, die ja schlechthin auf das Gute oder Böse gerichtet ist. Mit Rücksicht nun auf das noch nicht erreichte schwer zu gewinnende Gut ist da Hoffnung und Verzweiflung. Mit Rücksicht auf das noch nicht gegenwärtige Böse ist Furcht und Kühnheit. Mit Rücksicht auf das erreichte und besessene Gute ist in der Abwehrkraft keine Leidenschaft; denn der Charakter des Schwierigen fehlt da. Mit Rücksicht auf das gegenwärtige Böse ist der Zorn. So sind in der Begehrkraft drei Klassen von Leidenschaften: 1. Liebe und Haß; 2. Verlangen und Abscheu; 3. Freude und Trauer. In der Abwehrkraft sind ähnlicherweife drei: 1. Hoffnung und Verzweiflung; 2. Furcht und Kühnheit; 3. der Zorn. So bestehen im ganzen elf der Gattung nach verschiedene Leidenschaften: sechs in der Begehrkraft; fünf in der Abwehrkraft. Alle einzelnen Leidenschaften sind in diesen elf Gattungen enthalten.
c) Die Einwürfe sind damit gelöst.
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