Erster Artikel. Der Charakter von „gut“ und „böse“ findet sich in den Leidenschaften.
a) Dagegen ist: I. Das moralisch Gute oder Böse ist dem Menschen als solchem eigen. Die Leidenschaften aber finden sich auch in den Tieren. II. „Gut“ und „böse“ will für den Menschen besagen: gemäß der Vernunft sein oder von der Richtschnur der Vernunft absehen, wie Dionysius (4. de div. nom.) ausführt. Die Leidenschaften aber sind nicht in der Vernunft, sondern im sinnlichen Begehren. Also kommt es ihnen nicht zu, „gut“ oder „schlecht“ zu sein. III. „Wegen der Leidenschaften verdienen wir weder Lob noch Tadel,“ sagt Aristoteles. (2 Ethic. 5.) Dies geschieht aber wegen des moralisch Guten oder Bösen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (14. de civ. Dei 7.) — und er spricht von den Leidenschaften der Seele: „Schlecht ist dies Alles, wenn die Liebe schlecht; gut, wenn diese gut ist.“
b) Ich antworte, die Leidenschaften können unter doppeltem Gesichtspunkte aufgefaßt werden: einmal an und für sich selbst betrachtet; — dann als der Anordnung der Vernunft unterliegend. Im erstgenannten Sinne genommen ist in ihnen kein moralisch Gutes oder Böses; denn so sind sie nur Bewegungen des vernunftlosen Begehrens, während das moralische Moment von der Vernunft abhängt. Wird aber der zweitgenannte Sinn genommen, so wohnt ihnen der Charakter des Moralischen inne. Denn das Sinnesbegehren steht der Vernunft und dem Willen näher, wie die äußeren Glieder, deren Bewegungen doch moralisch gut oder schlecht sind, insoweit sie als freiwillige dastehen. Inwiefern also die Leidenschaften dem freien Willen unterstehen, sind sie in weit höherem Grade moralisch gut oder schlecht; insofern sie nämlich vom Willen her angeordnet oder nicht verhindert werden.
c) I. An sich betrachtet sind die Leidenschaften den Tieren und Menschen gemeinsam; nicht aber als der freien Willensbestimmung unterliegende. II. Die sinnlichen Kräfte werden als vernünftige bezeichnet; insofern sie gewissermaßen an der Bestimmung der Vernunft Anteil haben. III. Wegen der Leidenschaften an sich betrachtet werden wir nicht gelobt oder getadelt; wohl aber gemäß der Ordnung, welche die Vernunft in ihnen macht oder machen müßte. Deshalb fügt Aristoteles hinzu: „Nicht wird gelobt oder getadelt wer Furcht hat oder zürnt, außer unter gewisser Voraussetzung,“ soweit dies nämlich der Vernunft gemäß ist oder nicht.
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