Zweiter Artikel. Die Liebe ist eine Leidenschaft.
a) Dagegen sagt: I. Diönysius (4. de div. nom.): „Alle Liebe ist eine Tugend oder eine Kraft.“ II. Augustin (8. de Trin. 10.): „Die Liebe ist Einigung oder ein gewisses Band.“ Das bezeichnet aber mehr eine Beziehung als ein Leiden. III. Damascenus (2. de orth. fide 22.): „Leidenschaft will besagen eine Bewegung.“ Die Liebe aber schließt keine Bewegung ein, sondern dies thut das Verlangen. Die Liebe ist vielmehr Princip, Anstoß. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (8 Ethic. 3.): „Liebe ist Leidenschaft.“
b) Ich antworte; die Leidenschaft ist eine Wirkung im Leidenden, die vom Einwirkenden ausgeht. Das einwirkende Princip aber in der Natur hat im leidenden Gegenstande zwei Wirkungen zur Folge: 1. die entsprechende Form oder Gestalt; und 2. die Bewegung, welche dieser Form entspricht; wie z. B. das zeugende Princip dem betreffenden Körper die Schwere verleiht, und ebenso kommt von ihm die Bewegung, welche der Schwere entspricht; und diese Schwere selber, die da Princip ist für die Bewegung zu dem von Natur zukommenden Orte hin, kann gewissermaßen „naturgemäße Liebe“, amor naturalis, genannt werden. So nun giebt auch der erstrebbare Gegenstand zuerst der begehrenden Kraft ein gewisses Ähnlichsein mit ihm, er paßt diese sich an; dies ist nichts Anderes als das Wohlgefallen am Erstrebbaren, woraus die Bewegung zum Erstrebbaren folgt. Denn „das Begehren“ sagt Aristoteles „bedingt eine Kreisbewegung.“ Es bewegt nämlich das Erstrebbare oder Liebwerte das Begehren, indem es darin gleichsam ein Bild von sich einprägt; und nun strebt das Begehren danach, den begehrten Gegenstand wirklich in Besitz zu nehmen; so daß da für die Bewegung das Ende ist, wo ihr Beginn gewesen. Die erste Veränderung also, welche der erstrebbare Gegenstand imBegehrungsvermögen zur Folge hat, wird Liebe genannt; es ist dies nämlich nichts Anderes wie das Wohlgefallen am Erstrebbaren. Aus diesem Wohlgefallen folgt die Bewegung zum Erstrebbaren hin, die das Verlangen ist; und endlich folgt die Ruhe. Da also die Liebe darin besteht, daß das Begehren vom Begehrbaren als dem Einwirkenden aus eine Änderung erfährt, so ist die Liebe offenbar eine Leidenschaft; — und zwar im eigentlichen Sinne, soweit sie in der sinnlichen Begehrkraft sich findet; unter Ausdehnung des Namens in allgemeinerer Bedeutung, soweit sie im Willen ist.
c) I. Die Tugend ist das Princip für die Bewegung oder Thätigkeit; deshalb nennt Dionysius die Liebe eine Tugend, insoweit sie das Princip für die Bewegung im begehrenden Teile ist. II. Die „Einigung“ gehört mit zur Liebe, insofern vermittelst des Wohlgefallens das Begehren des Liebenden sich so verhält zum geliebten Gegenstande wie zu sich selbst oder wie zu etwas ihm selbst Zugehörigen.“ Die Liebe ist also nicht die Beziehung selber der Einigung, sondern die Einigung ist etwas der Liebe Nachfolgendes. Deshalb sagt Dionysius (4. de div. nom.): „Die Liebe ist eine Tugend oder eine Kraft, welche eins macht;“ und Aristoteles (2 Polit. 2.): „Die Einigung ist das Werk der Liebe.“ III. Die Liebe besagt allerdings nicht jene Bewegung, vermöge deren das Begehren nach dem Erstrebbaren hin sich richtet; wohl aber bezeichnet sie jene Bewegung, vermöge deren das Begehren vom Erstrebbaren aus eine Änderung erleidet, so daß ihm dieses letztere gefällt.
