Sechsundzwanzigstes Kapitel. Über die Leidenschaften im besonderen. — Die Liebe. Überleitung.
„Überliefere mich nicht denen, die mich verleumden.“ (Ps. 118.) So fleht die Seele beim Psalmisten zu Gott. Der königliche Prophet erklärt dies noch weiter Ps. 139: „Überliefere mich nicht von meinem Verlangen aus dem Sünder.“ Und damit wir genau wissen, von welchem Verlangen die Rede ist, fleht er Ps. 73: „Überliefere nicht den Tierischen die Seelen, die Dich preisen.“ Es wird die Seele dann verleumdet, wenn ihr, die nur in Gott ihre Ruhe finden kann, vorgehalten wird, sie könne die Dinge gebrauchen des bloßen sinnlichen Ergötzens halber. Sie wird dann verleumdet, wenn ihr, die da, wie Thomas oben sagte, „um so vollendeter ist, je mehr sie der Urvollendung, je mehr sie Gott nahe kommt“ und die da verpflichtet ist, ihrer eigenen Vollendung nachzustreben, es wie ein Recht vorgelegt wird, es sei ihrer Freiheit angemessen, da, wo kein positives Gebot nachzuweisen ist, sich der Dinge um der Dinge willen ganz wie sie will zu bedienen und nur weil sie will, nicht aber weil ihre Vernunft da mehr Zweckdienliches sieht wie dort. Es giebt keine gleichgültige Handlung im einzelnen; das will heißen, wie Augustin sagt (de peccat. merito et remiss.): „Der Wille ist in jeder menschlichen Handlung entweder gut oder schlecht“ und 2 de serm. Dom. in monte: „Es giebt einzelnes thatsächlich Bestehendes, was von sich aus, als Gegenstand allein betrachtet, weder gut noch schlecht ist, also in der Mitte steht; es wird gut oder schlecht dadurch daß es mit guter oder schlechter Absicht geschieht (dono vel malo animo fieri possunt) und darüber im einzelnen zu urteilen, wäre gewagt.“ Wodurch aber wird die Handlung im einzelnen Menschen „gut“ oder „schlecht“? Dadurch daß sie der Ordnung der Vernunft unterliegt. Und die Vernunft, was sagt sie? Hören wir die heidnischen Philosophen: Seneca schreibt (ep. 88.): „Die Tugend der Mäßigkeit befiehlt die Ergötzlichkeiten; die einen heißt sie gut und giebt ihnen das Maß, die anderen haßt und entfernt sie; und niemals kommt sie zu ihnen wegen derselben. Sie weiß, das beste Maß des Begehrens nach selben sei es, nicht weil du willst, sondern weil du mußt sie nehmen.“ Wird gesagt, es sei doch den einzelnen Vermögen erlaubt, ihrer eigenen Thätigkeit zu genießen, so zeigt dies eine beklagenswerte Unwissenheit in der Väterlehre. Denn hinreichend bekannt ist das Wort Augustins (83. Q. 30.): „Die ganze menschliche Verkehrtheit besteht darin und dies wird auch Laster genannt, das nämlich als Mittel gebrauchen wollen, was an und für sich selber Zweck und demnach seiner Natur Gegenstand des Genusses ist; und das genießen zu wollen, was an und für sich zweckdienlich ist;“ und ebenso: „Tugend ist, das als Mittel gebrauchen, was seiner innersten Naturnach Mittel zum Zweck wirklich ist; und das genießen wollen, was thatsächlich Gegenstand des Genusses ist.“ Thomas erklärt dies weiter: „Die Ergötzlichkeiten in den Dingen sind wegen der Thätigkeiten da, die sie annehmbarer machen sollen; nicht aber ist die Thätigkeit da wegen der Ergötzlichkeiten.“ Dem stimmt Seneca bei (de beata vita c. 10.): „Du gefällst dich in der Ergötzlichkeit, ich bin ihr Herr; du willst sie genießen, ich gebrauche sie;“ und ep. 65.: „Zu groß bin ich und zu allzugroßen Dingen bin ich geboren; als daß ich Sklave meines Körpers werde, den ich nicht anders ansehe wie eine Kette, welche meiner Freiheit angelegt ist.“ Thomas legt auf den bezeichnenden Ausdruck „Leidenschaft“ Gewicht und unterscheidet sie von der „Thätigkeit“. Ist denn Leidenschaft keine Thätigkeit? Für die Tiere wohl, für uns nicht. Menschliche Thätigkeit hat zur leitenden Richtschnur die Vernunft, also den Grund; also das in das Herz selber gelegte natürliche Gesetz, welcher Klasse es auch immer angehöre. Thätigkeit für den Menschen heißt: auf die Vernunft beziehen; und somit: dem letzten Zwecke unterordnen. Den Sinnen aber und demgemäß den Leidenschaften kommt es an und für sich zu, weiter bestimmt zu werden, weiter vollendet zu werden; sie zeigen nie von sich aus den letzten Zweck, sondern wollen ihn empfangen, „erleiden“ von der Richtschnur der Vernunft her. Wo in einem Wesen diese Richtschnur nicht der Natur nach ist, da darf dieses Wesen den sinnlichen Eindruck als maßgebend für sein Handeln betrachten; es darf danach „thätig“ sein; Leidenschaft und Thätigkeit fällt da zusammen. Beim menschlichen Handeln aber ist dies nicht der Fall; und zwar der menschlichen Natur nach nicht, welche die Vernunft einschließt. Beim Essen bloß auf das Ergötzliche sehen und auf keinen anderen Grund hin essen, das heißt: „von Gott überliefert sein tierischem Handeln,“ wie der Psalmist sagt; oder: „die Seele überlassen den Verleumdern,“ die sie dem Tiere gleich machen möchten. „Wenn die Notwendigkeit im Essen befriedigt ist und dann die Liebe zum Essen trotzdem die Seele noch beunruhigt,“ so Augustin (4. contra Julian c. 14.), „das ist bereits Begierlichkeit, das ist bereits Übel; dem muß man widerstehen und nicht nachgeben… Unterscheiden müssen wir lernen, was die Notwendigkeit der Erhaltung des Körpers und was die regellose Begierlichkeit im Verzehren verlangt; denn unsere Aufgabe ist es, gegen das begierliche Fleisch mit dem Geiste zu begehren, uns zu ergötzen am Gesetze Gottes gemäß dem innerlichen Menschen und den heiteren Frieden dieses Ergötzens nicht zu verdunkeln durch das Ergötzen im Begehren selber.“ Hatte nicht oben Thomas gesagt, „die Freude sei das beabsichtigte Ziel und Ende der Leidenschaften und deshalb werde verlangt und begehrt?“ Was für eine Freude? Wahrlich nicht eine solche, die eben wieder wesentlich nichts Anderes ist wie neues Begehren! „Nicht wird das Auge am Sehen gesättigt und der Geizige nicht am Gelde.“ Das besessene Geld macht keine Freude, es entflammt nur die Begierde nach mehr; und so geschieht es mit allen Leidenschaften als solchen. Die Freude selber, die sie gewähren, ist nur dann wahrhaft Freude, wenn sie bezogen wird auf den höchsten Grund, bestimmt wird vom höchsten Gesetze; denn dann wird sie wahres Mittel zur höchsten Freude. Sonst sind die Leidenschaften unruhige Bilder für alle Begierden. „Mit diesen,“ fügt Augustin hinzu, „müßt ihr kämpfen, um zu siegen. Im Augenblicke, daß ihr mit ihnen aufhört zu kämpfen, seid ihr besiegt; — bindet ihr sie nicht, so binden sie euch.“ Wer in dem mit höchster Schnelligkeit dahinsausenden Dampfschiffe fest und ruhig sitzt, vor dem fliegen vorbei Länder, Berge, Thäler, Wüsten, schöne Fluren, Flüsse, Bäche, Seen; er selbst aber scheint unbewegt zu sein. So sitze fest in deinem Gotte und im Strahle seines in der Vernunft glänzenden Gesetzes. So mögen vor deinem geistigen Auge vorbeifliegen die vergänglichen Güter. Nimm davon in Gebrauch, was der Wille, was das Gesetz Gottes gutheißt; aber nimm nie etwas davon, was dich bloß durch seine Ergötzlichkeit einladet, mag es noch so schön und wohlgefällig und mögen deine Vermögen noch so sehr gewisse Thätigkeiten besitzen. Diese Thätigkeiten haben deine Vermögen, ihre Ergötzlichkeiten haben die Dinge, damit sie dir dienen. Dein Bestes aber ist, selig, ewig selig zu werden; und zu diesem Besten führt dich allein das göttliche Gesetz, wie es in deiner Vernunft widerstrahlt. Wo diese dir zeigt, daß da in höherem Maße dein Bestes sei, dahin steuere das Schiff deiner Freiheit; da pflücke, aber nur so lange dieses Gesetz es vorschreibt. “Duobus solis modis,“ schreibt Thomas 4. dist. 36 et 31 mit dem magister sentent. „Conjuges absque omni peccato conveniunt, scilicet causae procreandae prolis et debiti reddendi, alias semper est ibi peccatum ad minus veniale.“ Thomas folgt dabei den heiligen Augustin (de bono conjugal. 6. et 7.): „Conjugalis concubitus generandi causa non habet culpam; concupiscentiae vero satiandae causa sed tamen cum conjuge, propter fidem tori, venialem habet culpam. Reddere debitum conjugale mullius est criminis, exigere autem ultra generandi necessitatem, est culpae venialis.“ Dasselbe sagt Gregor der Große (32 moral. 20.): „Tunc solum conjuges in admixtione sine culpa sunt, cum non pro explenda libidine, sed pro suscipienda prole miscentur“ und (3. Pastor. admon. 28.): „Unde neeesse est, ut crebris exhortationibus moneantur, ut defleant, quod pulchram copulae speciem admixtis voluptatibus foedant.“ Oder will man sagen, es sei ein tugendhafter Gebrauch der ehelichen Verbindung, wenn die eheliche Pflicht rein um der Ergötzlichkeit willen, concupiscentiae sedandae causa, geleistet wird! Dies wird wohl niemand sagen wollen. Es giebt aber kein Mittelding in der Moral. Entweder Verdienst oder Mißverdienst, Tugend oder Sünde. Alles also, was rein um der Ergötzlichkeit willen geschieht, ist Sünde und durchaus nicht an und für sich erlaubt. Veniale nennt Augustin nebst den anderen Heiligen den Gebrauch der Ehe, also einer durch das Sakrament geheiligten Verbindung, wenn nicht diesen Gebrauch im einzelnen die Gerechtigkeit oder die Liebe zur Nachkommenschaft heiligt. Was soll dann erst von den anderen Dingen gesagt werden, von denen man behauptet, sie könnten gebraucht werden rein um der damit verbundenen Annehmlichkeit willen. „Veniale“ sagen die Väter und sie folgen damit dem Apostel: „Hoc autem dico,“ daß nämlich jemand zur Beruhigung seiner Begierlichkeit ein Weib nimmt, „sed secundum veniam.“ „Veniale“ ist, wie Thomas später erklären wird, „was in sich ein Moment einschließt, welches Mitleid verdient,“ quod veniam meretur, „sei es wegen der kleinen Materie sei es wegen der mangelnden Überlegung sei es wegen der großen Begierlichkeit.“ Es wird also damit kein Fallstrick gelegt der menschlichen Schwäche, daß ein solcher Gebrauch der Ehe für culpa veniale erklärt wird. Wohl aber wird das Recht geleugnet, als ob die Eheleute sich in beliebiger Weise betragen und dabei noch pochen könnten auf ihr gutes Recht oder Tugendlohn fordern. Nachsicht, Mitleidverdienen sie. Was sie in der genannten Weise thun, ist vom Übel positiv; aber es verdient Verzeihung, weil sie damit ein größeres Übel vermeiden wollen. Weinen sollen sie, sagt Gregor, klagen über ihre Schwäche; aber nicht sich auf Grund solcher Akte für Tugendhelden halten. „Kleineren Fehlern,“ so ermahnt der nämliche heilige Vater, „unterliegen wir, damit wir nicht großen Unterthan werden, ohne auf Nachsicht rechnen zu können; und zu überaus hohen Tugenden gelangen wir gar oft, trotzdem wir durch kleinere Übertretungen hindurchgehen.“ (Beschreibung des Behemoth in Job.) Und Thomas: „Eines weisen Gesetzgebers Sache ist es, nicht Alles regeln zu wollen, kleine Fehler zu übersehen, damit große vermieden werden.“ Was wahr ist, was schamhaft ist, so Paulus, was gerecht ist, was heilig ist, was Liebe verdient, guten Ruf erwirbt, wenn etwas tugendhaft erscheint, der Erziehung der Heiligen würdig, das halten wir fest in unseren Gedanken, das billigen wir und das Andere betrachten wir als leere Eitelkeit. Wie viele casus in der Moral könnten in der Besprechung fortgelassen werden, wenn diese Regel befolgt würde, daß wir nicht meinen, die Ergötzlichkeit der Dinge allein von sich aus, die Natur unserer Vermögen allein von sich aus, gebe bereits ein Recht oder sei wenigstens schon eine Quelle des Rechtes für unsere Handlungen. Daß wir doch nicht denken, wir dienten damit der Schwäche unserer Natur; — wir stellen mit solchen Meinungen sie nur immer schwächer und elender hin, und machen den Abgrund, den sie von sich aus hinunterrollt, nur noch platter und die Schwierigkeit, daraus emporzutauchen nur noch größer. Gott allein kann es leicht machen, seinen Willen zu thun. Nur wenn wir im Handeln seiner Richtschnur, wie die Vernunft sie vorhält, folgen, wird uns wahrhaft geholfen. Wie schwer ist es dem Menschen, in seinem Fleische gebrannt zu werden! Laurentius erschien der glühende Rost wie Rosen. Nicht dadurch daß man die „Last“ des christlichen Lebens leugnen oder vermindern möchte in ihrem Inhalt, entfernt man sie; sondern wenn man die Seele Gott, dem ewigen Urgründe, dem letzten Zwecke, wenn man sie seinem Willen und Gesetze nähert, macht man diese „Last leicht“. Jeder Beichtvater wird die Erfahrung gemacht haben, daß, je mehr er dem Beichtkinde zugesteht, desto schwieriger für dieses der Pfad der Tugend wird, bis es zuletzt auch nicht mehr das Leichteste für möglich hält zu thun. Thomas giebt die Abhandlung über die Leidenschaften, auch über die einzelnen, im ersten Teile des zweiten Teiles, da nämlich, wo er die allgemeinen Principien des moralischen Thuns auseinandersetzt. Er giebt damit den besten Fingerzeig, welche Stellung die Leidenschaften — und darin ist ja alles Sinnliche enthalten — in der Moral einnehmen. Sie sind im Menschen etwas weiter Bestimmbares. Sie sind für alle Menschen an und für sich betrachtet die nämlichen. Die Leidenschaft der Liebe, des Verlangens, der Freude etc. äußert sich und ebenso ihre Glieder, die einer jeden untergeordneten Leidenschaft nämlich, ganz gleichermaßen in allen Menschen. Sie sind demnach wahre Principien des menschlichen Thuns, die den Endabschluß des menschlichen Aktes, seinen Zweck nicht in sich enthalten. Und doch bildet die Leidenschaft in jedem Menschen die natürliche Grundlage für das Einzelne, dem Menschen im besonderen Charakteristische. Die Tugend nämlich oder besser überhaupt die ordnende leitende Vernunft weckt erst den Keim des Einzelnen, Unterscheidenden in den Leidenschaften und entwickelt ihn. Thomas wird dies im zweiten Teiie bei Behandlung der einzelnen Tugenden und Laster oft genug darthun. Dies entspricht genau der Natur des Menschen. Das Sinnliche, Stoffliche ist allen gemeinsam; das unterscheidende Moment, jenes, das den einen vom anderen in bestimmender Weise trennt, ist der den Stoff und den Sinn vollendende vernünftige Geist. Thomas ist weit entfernt von der Gefahr, die Moral für alle einzelnen Fälle schablonisieren zu wollen. Er weiß wohl, daß der Weg zum Himmel kein Schnellzug ist, in den man sich unterschiedslos nur hineinzusetzen hat, um aller Sorgen ledig zu sein. Es genügt nicht, ein Moralbuch vorkommenden Falles nachzuschlagen, um gleich seinen „casus“ darin gelöst zu finden. Es ist so, wie Alfons oben bemerkte. Noch so viele Autoritäten — und welchen Mißbrauch treibt man nicht nötigenfalls damit; jeder Autor, der etwas mehr der menschlichen Schwäche nachgiebt, wird zu einer „Autorität“ und zwar zu einer solchen, gegen die Thomas, Augustin, Gregor, Chrysostomus nicht aufzukommen vermögen — entbinden nicht von der Pflicht, sich selbst ein genügendes Urteil aus der Sache heraus zu bilden; von der Pflicht, so sagen wir mit dem heiligen Kirchenlehrer. Es ist dem Beichtvater nicht erlaubt, bloß einem irgendwelchen Moralbuche zu folgen. Seiner eigenen ernst forschenden Vernunft ist die Prüfung im einzelnen überlassen. Thomas liefert dazu die schwerwiegendsten sachlichen Principien. Er tötet nicht die Vernunft; er belebt sie, er erweitert ihr den Weg. Danach muß der Beichtvater das Beichtkind wirklich leiten. Er darf nicht, wie ein geistreicher Mann sagt, das persönliche Gewissen des Beichtkindes sein wollen. Oder giebt denn der Führer auf einer Straße dem Geführten die Beine zum Gehen; ist er es, der anstatt des Geführten geht? Er räumt wohl für den Geführten die Gelegenheiten des Irrtums fort; aber dieser geht selber. Der Beichtvater soll eben dies zum Zwecke haben, daß die Augen des Beichtkindes erweitert, sein Gewissen von Hindernissen für dessen richtige Formierung möglichst befreit, daß der Sinn vom Sinnlichen losgelöst werde, daß das Beichtkind nicht die sinnliche Ergötzlichkeit für so sehr wert halte, um danach zu handeln, sondern Alles in ihm offen und frei werde für den Einfluß des Ewigen, der allein Selbständigkeit, Freiheit im einzelnen Akte geben kann. „Jeder (einzelne) wird Rechenschaft geben vor dem Tribunal Christi von dem, was er gethan.“ Und daß das Beichtkind so recht von dem Gewichte dieser Rechenschaft durchdrungen sei, um eifrig selber nachzudenken, selber zu prüfen, selber zu beten und so den Weg für Gott in sich vorzubereiten, der jeden zu seinem einzelnen Zwecke hin führt, den einen so, den anderen so; — das ist die Aufgabe des Beichtvaters und nicht, die Stelle des Gewissens im anderen zu übernehmen und jenen Stand des Beichtkindes für den besten zu halten, wo das Beichtkind für jeden Atemzug um Erlaubnis und Aufschluß fragt. Und daß der Beichtvater selber lernt, seine Vernunft zu gebrauchen und selber nachzudenken; — dies ist die Aufgabe der Moralwissenschaft und nicht, eine Masse schablonisierter einzelner Fälle dem faulen Geiste vorzuhalten. Kein Moralbuch wird vor dem Richterstuhle des Ewigen jenen Beichtvater retten, der seinen Beichtkindern gelehrt und sie dazu geführt hat, um des Vergnügens willen, das den Dingen innewohnt, thätig zu sein. Er hatte seine natürliche Vernunft dafür, um zu erkennen, daß das Mittel um des Zweckes willen da ist und nicht der Zweck um des Mittels willen. Und kein Beichtvater wird das Beichtkind retten vor der Verdammnis, das auf solchen Rat gehört und danach gehandelt hat; es hatte seine natürliche Vernunft nur ernst zu gebrauchen, um solche Principien nicht anzuerkennen.Erweitern, lebendig machen, zum Ewigen emporrichten muß den Geist die wahre Wissenschaft. Verknöchert sie den wissenschaftlichen Inhalt zu schmalen trockenen Kompendien, die immer kürzer werden, so ist das nicht die Wissenschaft des Geistes, die aufbaut, sondern die des Sinnes, die aufbläht. „Sicut sagittae in manu potentis ita filii excussorum.“ So muß es sein, wie hier der Psalmist sagt! Die Seele soll, von den äußeren Kreaturen getrieben, nun bewußterweise sich in die Hand des barmherzigen Gottes legen, dessen Hand bereits sie unbewußterweise im Innern dem Zwecke entgegenleitet, wie der Schütze den Pfeil abschießt und demselben so die im einzelnen ganz bestimmte Richtung zur Scheibe giebt. Zu Gott soll die Seele emporgehoben werden durch die menschliche Leitung. Und das geschieht nur vermittelst der Gesetze Gottes. Das geschieht nur vermittelst der Vernunft, die gehörig gefragt, für jeden einzelnen Akt im einzelnen Menschen, selbst für ein Wort, den leitenden Grund angiebt, kraft dessen der Mensch Rechenschaft geben kann. Das geschieht nur, wenn dem Menschen es immer klarer wird, wie nichts Sichtbares, nichts Sinnliches seinen Geist genügend festhalten kann. Ihm wird auf Erden niemals „des Mächtigen“ Kraft völlig klar, mit welcher Dieser ihn von Anfang an bis zum einzeln festgesteckten Ziele führt. Aber es genügt, daß von der Erde her ihm nur Finsternis erscheine, wie nämlich da nichts fähig ist, seinem Geiste angemessene Nahrung zu geben; damit der arme „Pfeil“, so arm und hinfällig in sich, so fest und kräftig in der Hand des „Mächtigen“, sich nach dieser Hand sehne und in Allem flehe: „Verleih' Du mir Verstand;“ „neige Du mein Herz.“ O wie weit wird da der Weg dieses Pfeiles; und wie frei selbständig fliegt er unaufhaltsam dahin! „Herausgeschossen“ ist er; aber wunderbarerweise bleibt er immer in der Hand des Mächtigen. „Heraus“ ist er für sich selber; denn er sieht sich vom Nichts umgeben. „Innen“, in der Hand, ist er für Gott, der ihn mit seiner Macht umschließt. Die Leidenschaften beugen sich unter diesem erhabenen Fluge und mit ihnen die ganze sichtbare Welt. Da heißt es nicht mehr: „Überliefere mich nicht den Verleumdern,“ „den Tieren;“ nein da heißt es: „Überliefert bin ich worden, aber ich bin nicht herausgegangen,“ Traditus sum et non egrediebar. Überliefert bin ich worden dem Stolze, dem Geize, dem Neide, dem sinnlichen Genusse etc.; — alle diese Leidenschaften habe ich zu Boden getreten, in welcher Gestalt auch immer sie an mich herantraten; durch sie hindurch bin ich geschritten, arm, gedemütigt äußerlich, aber innerlich in der höchsten Freiheit und Selbständigkeit. Denn „ich ging niemals hinaus“ aus der Hand des Mächtigen; stets umschloß mich, auch da meine Augen vor Ohnmacht schwach erschienen, die kräftig leitende Gewalt meines Gottes.
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