Zweiter Artikel. Das gegenseitige Innewohnen ist eine Wirkung der Liebe.
a) Daß der Liebende im Geliebten und umgekehrt ist, scheint keme Wirkung der Liebe zu sein. Denn: I. Was einem Wesen innewohnt, ist im selben enthalten. Nicht aber kann das Gleiche in sich enthaltend sein und zugleich das in ihm Enthaltene. Also kann keinerlei wechselseitiges Innewohnen von der Liebe verursacht werden. II. Nichts kann in das Innere eines Ganzen vordringen außer vermittelst einer Teilung. Teilen aber Dinge, die in sich thatsächlich geeinigt sind, gehört nicht dem Begehren an, worin doch die Liebe sich findet; sondern vielmehr der Vernunft. III. Wenn vermittelst der Liebe der Liebende im geliebten Gegenstande ist und umgekehrt, so folgt, daß auf diese Weise das Geliebte mit dem Liebenden geeinigt werde, wie der Liebende mit dem geliebten Gegenstande. Die Einigung selbst aber ist Liebe wie Art. 1 gezeigt worden. Also wird immer der Liebende geliebt werden vom Geliebten, was falsch ist. Auf der anderen Seite heißt es 1. Joh. 4.: „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott; und Gott in ihm.“ Die Liebe aber hier ist die Liebe zu Gott. Also in der nämlichen Weise macht es jede Liebe, daß das Geliebte im Liebenden ist.
b) Ich antworte, diese Wirkung des gegenseitigen Innewohnens kann verstanden werden sowohl mit Rücksicht auf die Auffassungs- wie auf die begehrende Kraft. Denn mit Rücksicht auf die Auffassung wird gesagt, der Geliebte sei im Liebenden, insoweit der Geliebte bleibt in der Auffassung des Liebenden nach Phil. 1.: „Weil ich euch im Herzen habe.“ Der Liebende aber ist nach der Auffassungskraft im Geliebten, weil ersterer nicht zufrieden ist mit einer oberflächlichen Kenntnisnahme des Geliebten, sondern alles Einzelne, was zum Geliebten gehört und Beziehung hat, bis ins Innerste hinein durchforschen will und weil er so bis ins Innere eintritt; wie vom heiligen Geist, der da ist die Liebe Gottes, gesagt wird 1. Kor. 2.: „Er durchforscht die Tiefen der Gottheit.“ Mit Rücksicht auf die begehrende Kraft wird gesagt, der Geliebte sei im Liebenden, inwieweit er vermittelst eines gewissen Wohlgefallens innerhalb von dessen Hinneigung sich findet, so daß der Liebende entweder in ihm oder in seinen ihm gegenwärtigen Vorzügen sich ergötzt, oder in dessen Abwesenheit nach dem Geliebten selber hin vermittelst des Verlangens strebt bei der Liebe der Begierlichkeit und nach den Gütern, die er ihm will, bei der Liebe der Freundschaft; — nicht zwar infolge einer äußerlichen Ursache, wie wenn jemand etwas eines anderen wegen verlangt oder wenn jemand einem anderen Gutes will, um einen weiteren Zweck zu erreichen; sondern vielmehr auf Grund des inneren Wohlgefallens, das er mit Rücksicht auf den Freund festgewurzelt in sich trägt. Deshalb spricht man von „innigster Liebe“ und von „Eingeweiden der Liebe.“ Umgekehrt aber ist der Liebende im Geliebten anders vermittelst der Liebe der Begierlichleit und anders vermittelst der Liebe der Freundschaft. Denn die Liebe der Begierlichkeit ruht nicht in einer beim Äußeren stehenbleibenden oder oberflächlichen Erreichung oder Genießung des geliebten Gutes, sondern will in ganz vollkommener Weise es besitzen, gewissermaßen bis zu dessen tief Innerstem vordringen. In der Liebe der Freundschaft aber ist der Liebende im Geliebten, insofern er die Güter des Geliebten als seine eigenen betrachtet und dessen Willen wie seinen eigenen ansieht; so daß er gewissermaßen in seinem Freunde Gutes wie Böses erfährt, sich freut und leidet. Deshalb ist es den Freunden eigen, „das Gleiche zu wollen, über das Gleiche Freude oder Trauer zu empfinden,“ fagt Aristoteles. (9 Ethic. 3.) Insoweit also jemand das dem Freunde Zugehörige als das Seinige betrachtet, scheint der Liebende im Geliebten zu sein und gleichsam dasselbe zu sein wie der Geliebte. Insoweit aber umgelehrt er will und handelt um des Freundes willen wie wenn eres selbst wäre, hält er gewissermaßen den Freund für sich selbst und so ist dann der Geliebte im Liebenden. Es kann aber nun noch in einer dritten Weise das gegenseitige Innewohnen bei der Liebe der Freundschaft verstanden werden, nämlich gemäß der Richtschnur der gegenseitigen Liebe, des Wiedergeliebtwerdens, insoweit sich die Freunde wechselseitig lieben und der eine für den anderen Gutes will und wirkt.
c) I. Das geliebte Gut ist im Liebenden, insofern es in dessen Hinneigung eingeprägt ist vermittelst eines gewissen Wohlgefallens. Der Liebende aber ist im geliebten Gegenstande enthalten, insoweit der Liebende gewissermaßen jenem nachgeht, was dem geliebten Gegenstände am meisten innerlich ist. Denn nichts steht dem entgegen, daß etwas in einem Anderen enthalten sein kann und wiederum seinerseits dieses in sich enthält in verschiedener Weise; wie die „Art“ in der Gattung ist und die Gattung, aber nicht gerade in der nämlichen Weise, in der „Art“. II. Die Auffassung der Vernunft geht der Hinneigung der Liebe voran. Wie also die Vernunft durchforscht, so tritt die Hinneigung der Liebe ein in den geliebten Gegenstand. III. Dieser Einwurf berücksichtigt die an dritter Stelle oben genannte Weise der Liebe, die sich nicht in jeder Liebe findet.
