Zweiter Artikel. Die Begierlichkeit ist eine eigene Leidenschaft.
a) Die Begierlichkeit scheint dasselbe zu sein wie die Begehrkraft und keine von dieser verschiedene Leidenschaft. Denn: I. Die Leidenschaften werden unterschieden gemäß den Gegenständen. Der Gegenstand der Begierlichkeit (concupiscentia) ist aber der nämliche wie der der Begehrkraft (concupiscibilis); nämlich das Ergötzliche gemäß den Sinnen, nach Aristoteles. (1 Met. 11.) Also ist die Begierlichkeit keine besondere Leidenschaft in der Begehrkraft. II. Augustin erklärt (83. Qq. 33.): „Die Begierde ist die Liebe zu den vergänglichen Dingen;“ und so ist die Begierlichkeit nicht unterschieden von der Liebe, während doch alle besonderen Leidenschaften in der Begehrkraft sich voneinander unterscheiden. III. Jeder Leidenschaft in der Begehrkraft ist eine andere besondere Leidenschaft entgegengesetzt. Der Begierlichkeit aber steht keine andere besondere Leidenschaft gegenüber. Denn Damascenus sagt (2. orth. fide): „Das Gut, welches erwartet wird, ist die Grundlage für die Begierlichkeit; jenes, welches gegenwärtig ist, die für die Freude. Ähnlich macht das erwartete Übel die Furcht aus und das gegenwärtige Übel die Trauer.“ Also scheint der Begierlichkeit die Furcht gegenüber zu stehen; diese aber ist in der Abwehrkraft. Also ist die Begierlichkeit keine eigene Leidenschaft in der Begehrkraft. Auf der anderen Seite wird die Begierlichkeit verursacht von der Liebe und strebt hin nach der Ergötzlichkeit; was doch Leidenschaften in der Begehrkraft sind. Also ist sie verschieden als eigene Leidenschaft von den anderen in der Begehrkraft.
b) Ich antworte, das für die Sinne ergötzliche Gut ist gemeinhin der Gegenstand der Begehrkraft. Nach den in solchem Gute angezeigten Unterschieden also wird man die Leidenschaften in der Begehrlraft unterscheiden müssen. Der Unterschied im Gegenstande aber kann ersehen werden entweder aus der Natur dieses Gegenstandes selbst oder aus der Verschiedenheit in der Kraft, die da thätig ist. Der Unterschied nun im einwirkenden Gegenstande, der sich richtet nach der Natur dieses Gegenstandes, bewirkt die materiale Verschiedenheit der Leidenschaften, d. h. das weiter bestimmbare Moment in den Leidenschaften. Der Unterschied aber, welcher von der thätigen Kraft herrührt, macht die formale Verschiedenheit aus, d. h. ist die Quelle des bestimmenden Moments in den Leidenschaften, wonach nämlich diese der Gattung nach sich voneinander unterscheiden. Nun ist für die thätige Kraft der Zweck selber oder das Gute ein wesentlich anders einwirkender oder bestimmender Grund, insofern derselbe dem thatsächlichen Sein nach gegenwärtig oder insofern er abwesend ist.Denn ist er in Wirklichkeit besessen, so macht er, daß man in ihm ausruht; ist er abwesend, so macht er, daß man nach ihm hin in Bewegung ist. Sonach verursacht das für den Sinn Ergötzliche, insofern es sich den Sinn anpaßt, ihn also sich gleichförmig macht, die Liebe; insofern es abwesend zu sich hinzieht, verursacht es die Begierlichkeit; insofern es gegenwärtig Ruhe giebt in sich selber, das Ergötzen. So also ist die BegierIichkeit der Gattung nach eine andere Leidenschaft wie die Liebe und das Ergötzen. Begehren aber dieses Ergötzliche oder jenes macht verschiedene Bewegungen der Begierlichkeit gemäß der Zahl; das kommt vom Materialobjekt.
c) I. Das ergötzliche Gute ist nicht als solches Gegenstand der Begierlichkeit, sondern als abwesendes; wie das sinnlich Wahrnehmbare als vergangen Gegenstand des Gedächtnisses. Solche besondere Bedingungen im Gegenstande machen in den Sinneskräften oder in den Leidenschaften einen Gattungsunterschied. II. Jene Aussage will den Grund der Begierde angeben; denn die Liebe ist der Grund der Begierde. Oder Augustin nimmt die Begierde im weiten Sinne für jegliche Bewegung des begehrenden Teiles; die auch auf das zukünftige Gute gehen kann und so unter sich die Liebe und die Hoffnung einbegreift. III. Die Leidenfchaft, welche direkt der Begierlichkeit entgegengesetzt ist, hat keinen Namen; eine solche nämlich, die sich so verhielte zum Bösen wie die Begierlichkeit zum Guten. Weil sie aber zum Gegenstande das abwesende Übel hat, nennt man an ihrer Statt oft die Furcht; wie ja auch die Begierde manchmal gesetzt wird an die Stelle der Hoffnung. Denn was nur ein kleines Gut oder geringes Böse ist, wird wie gar nicht vorhanden betrachtet. Und so wird oft für jede Bewegung des Begehrens zum zukünftig Guten oder Schlechten hin „Hoffnung“ oder „Furcht“ gesetzt, deren Gegenstand an und für sich ist: ein mit Schwierigkeiten verknüpftes Gut oder Übel.
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