Vierter Artikel. Die Begierlichkeit und das Endlose.
a) Die Begierlichkeit scheint in keiner Weise endlos sein zu können. Denn: I. Der Gegenstand der Begierlichkeit ist das Gute, was den Charakter des Zweckes, also des Endes, hat. Das „Endlose“ aber schließt aus das Ende. II. Die Begierlichkeit richtet sich auf das Zukömmliche, da sie von der Liebe ausgeht. Das Endlose aber kann, als ohne Verhältnis, nicht zukömmlich sein. III. Endloses zu durchschreiten ist unmöglich; und so gelangt man da an kein Letztes. Die Begierlichkeit aber wird Ergötzen dadurch daß sie zum Letzten kommt. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1. Polit. 6.): „Da die Begierlichkeit ins Endlose geht, sind endlos die Wünsche der Menschen.“
b) Ich antworte; die rein natürliche Begierlichkeit zwar kann nicht endlos sein, soweit es auf die Thätigkeit ankommt. Denn sie richtet sich auf das, was von der Natur erheischt wird; die Natur aber hält in dem, was sie wünscht, immer ein bestimmtes Maß ein. Deshalb begehrt der Mensch niemals nach einer Speise ohne Ende oder nach einem Tränke ohne Ende. Wie aber im Bereiche der Natur es geschieht, daß ein Endloses dem Vermögen nach besteht in der Auseinanderfolge, so daß das Ende der Aufeinanderfolge von der Natur der betreffenden Dinge aus nicht gegeben ist; — so trifft es sich, daß eine derartige Begierlichkeit endlos ist in der Aufeinanderfolge, so daß man nämlich, nachdem man einmal Speise genommen, danach ein andermal endlos begehrt; und ebenso verhält es sich mit anderen Bedürfnissen der Natur. Denn dergleichen Güter als körperliche bleiben nicht, einmal erreicht; sondern nehmen bald ab. Deshalb sagt der Hern (Joh. 14.): „Wer von diesem Wasser trinkt, der wird von neuem dürsten.“ Die nicht rein natürliche Begierlichkeit aber ist ganz und gar endlos. Denn sie folgt der Vernunft nach, wie Art. 3 gesagt; der Vernunft aber ist es eigen, das Endlose zum Gegenstande zu haben. Wer also nach Reichtum begehrt, kann diesen nicht begehren bis zu einer gewissen Grenze hin; sondern er begehrt schlechthin, reich zu sein, so viel es auch immer möglich ist. Auch ein anderer Grund kann nach Aristoteles (1. Polit. 6.) angegeben werden, warum die eine Begierlichkeit begrenzt sei und die andere endlos. Denn der Zweck der Begierlichkeit ist immer das Endlose. Der Zweck nämlich wird an und für sich begehrt wie z. B. die Gesundheit; so daß eine bessere Gesundheit mehr begehrt wird und so ins Endlose; — und scheidet die weiße Farbe, so scheidet sie um so mehr ohne Grenzen, je weißer sie ist. Wird aber das Zweckdienliche Gegenstand der Begierlichkeit, so ist sie gleichermaßen endlos, falls das Zweckdienliche gemäß dem Maße und Verhältnisse, das im Zwecke selbst enthalten ist, begehrt wird. Wer also seinen Zweck in den Reichtum setzt, der hat eine endlose Begierlichkeit nach Reichtum. Wer aber Reichtum begehrt, um den Bedürfnissen des Lebens zu genügen, begehrt Reichtum diesem an sich fremden Zwecke angemessen und nicht nach dem Verhältnisse des Reichtums selber, als ob dieser zugleich Zweck wäre. Das Nämliche gilt von der Begierlichkeit nach anderen Dingen.
c) I. Alles, was begehrt wird, das wird betrachtet als etwas Begrenztes; — entweder weil es dem thatsächlichen Sein nach begrenzt ist, insoweit es im einmaligen Akte begehrt wird; oder weil es begrenzt ist, insoweit es aufgefaßt worden. Denn unter dem Gesichtspunkte des präcis Endlosen kann es nicht aufgefaßt werden; weil „Jenes endlos genannt wird, von dem immer etwas dem Umfange nach übrig bleibt, wie viel man davon auch hinwegnimmt.“ II. Die Vernunft hat gewissermaßen eine unendliche Kraft, insofern sie etwas Unendliches betrachten kann, wie das erscheint in der Hinzufügung zu den Zahlen und Linien, wo die Vernunft wohl erwägt, wie man immer mehr ohne Ende hinzufügen kann. Deshalb steht das Unendliche, wenn es in einer gewissen Weise genommen wird, zur Vernunft in gewissem Verhältnisse. Denn der allgemeine Begriff, den die Vernunft bildet und betrachtet, ist gewissermaßen unendlich, insofern er dem Vermögen nach in sich enthält endlos viele Einzeldinge. III. Dazu daß jemand sich ergötzt ist nicht erfordert, daß er Alles erreicht hat, was er begehrt; sondern daß er sich ergötzt in jedem einzelnen, was er erreicht.
