Dritter Artikel. Es giebt rein natürliche Begierlichkeiten und andere nicht rein natürliche.
a) Diese Unterscheidung ist ungerechtfertigt. Denn: I. Die Begierlichkeit gehört zum sinnlichen Begehren. (Vgl. Art. 1.) Dieses aber ist eine dem natürlichen Begehren entgegengesetzte Unterabteilung in der gemeinsamen Art des Begehrens. Also ist keine Begierlichkeit rein natürlich. II. Die materiale Verschiedenheit, nämlich die nur gemäß dem Stoffe, macht keinen Unterschied in der Gattung, sondern höchstens in der Zahl. Giebt es aber rein natürliche Begierlichkeiten, so unterscheiden sie sich von den recht eigentlich nur den Sinnen und deren Auffassung eigenen einzig und allein gemäß den verschiedenen begehrbaren Gegenständen, soweit der Stoff sie trennt. Dies aber macht nur eine Verschiedenheit in der Zahl. III. Im Menschen steht auf der einen Seite die Vernunft in ihm, auf der anderen die Natur in ihm. Ist also im Menschen eine Begierlichkeit, die nicht rein natürlich wäre, so müßte sie vernünftig sein. Das ist aber unmöglich. Denn die Begierlichkeit gehört als Leidenschaft in densinnlichen Teil; nicht aber in den Willen als in das Begehren der Vernunft. Also giebt es keine rein natürliche Begierlichkeiten. Auf der anderen Seite unterscheidet Aristoteles wie im Titel. (3 Ethic. 11. et 1. Rhet. 11.)
b) Ich antworte, die Begierlichkeit sei das Begehren eines Gutes als von etwas Ergötzlichem. In doppelter Weise aber ist etwas ergötzlich: einmal, weil es der Natur des sinnbegabten Wesens zukömmlich ist, wie Speise, Trank etc.; und eine dementsprechende Begierlichkeit wird als rein natürliche bezeichnet; — dann ist etwas ergötzlich, weil es dem sinnbegabten Wesen zukommt gemäß der Auffassung wie das Gold; wie wenn jemand etwas als ihm passend auffaßt und später sich in diesem Gute ergötzt; und diese Art Begierlichkeit wird nicht als eine rein natürliche bezeichnet und pflegt vielmehr „Begierde“ genannt zu werden. Die ersten rein natürlichen Begierlichkeiten nun sind gemeinsam dem Menschen und dem Tiere; denn beiden ist etwas der sinnlichen Natur nach zukömmlich und ergötzlich. Deshalb nennt sie Aristoteles „gemeinsame und notwendige.“ Die an zweiter Stelle genannten Begierlichkeiten aber sind den Menschen allein eigen, denen es zukommt, etwas sich als ein Gut und als zukömmlich zu erdenken außer dem, was die Natur erfordert. Deshalb nennt Thomas die ersten „vernunftlose“, die zweiten aber „vernunftgemäße“. Und weil sie verschieden aufgefaßt werden, heißen sie auch „eigentümliche und (nämlich zu den rein natürlichen) hinzugefügte.“ (3 Ethic. 11.)
c) I. Jenes Nämliche, was Gegenstand des rein natürlichen Begehrens ist, kann auch begehrt werden mit dem sinnlichen Begehren, insoweit es aufgefaßt ist; und danach können Speise und Trank, welche bereits kraft der Natur begehrt werden, auch Gegenstand sein des sinnlichen Begehrens. II. Die Verschiedenheit der rein natürlichen Begierlichkeiten und der anderen ist nicht rein im Stoffe, material, sondern sie ist auch formal; insoweit sie hervorgeht aus der Verschiedenheit des thätig einwirkenden Gegenstandes. Denn der Gegenstand des sinnlichen Begehrens ist das erfaßte Gute. Also steht auf seiten der Verschiedenheit des einwirkenden Gegenstandes die Verschiedenheit der Auffassung; insofern nämlich etwas als zukömmlich aufgefaßt wird entweder mit absolut und von vornherein gegebener Auffassung, wovon die rein natürlichen Begierlichkeiten verursacht werden, die Aristoteles „vernunftlos“ nennt — oder insofern etwas als zukömmlich aufgefaßt wird mit Überlegung und Berechnung, wovon die nicht rein natürlichen Begierlichkeiten ausgehen, die Aristoteles als „mit Vernunft“ bezeichnet. III. Im Menschen besteht nicht nur ein auf das Allgemeine gerichteter Verstand, der zum rein geistigen Teile gehört, sondern auch ein beschränkter besonderer, ratio particularis (I. Kap. 78, Art. 8.), der im sinnlichen Teile und an ein stoffliches Organ gebunden ist. Und nach diesem auch kann die Begierlichkeit, welche „mit der Vernunft“, (cum ratione, ist, zum sinnlichen Teile gehören. Danach also kann das sinnliche Begehren auch von der allgemeinen Vernunft in Thätigkeit gesetzt werden vermittelst ber beschränkten Auffassungskraft.
