Zweiter Artikel. Die menschliche Tugend ist ein thatig wirksamer Zustand.
a) Dagegen sagt: I. Cicero (4 Tuscul.): „Wie die Gesundheit und Schönheit dem Körper zueignet, so der Seele die Tugend.“ Gesundheit und Schönheit aber sind keine wirksam thätigen Zustände. II. Im Bereiche der rein natürlichen Dinge findet sich Tugend oder Kraft, nicht nur zum Thätigsein hin sondern auch zum Sein hin; wie aus I. de coelo hervorgeht, wo gesagt wird, daß einige Körper Kraft haben um immer zu sein, andere aber nicht um immer zu sein, sondern nur eine gewisse Zeit hindurch, wonach sie vergehen ihrer eigenen Natur nach dazu getrieben. Also ist auch in den vernünftigen Wesen die Tugend nicht allein zur Thätigkeit, sondern auch zum Sein hin. III. Aristoteles sagt (7 Physic.): „Die Tugend ist eine Verfassung in dem, was vollendet ist zum höchst Vollendeten hin.“ Das höchst Vollendete aber, worauf der Mensch durch die Tugend gerichtet werden kann, ist Gott, wie Augustin beweist (de morib. eccl. c. 3, 6,14.); und zu Ihm wird die Seele hin gerichtet dadurch, daß sie Ihm ähnlich wird. Also muß die Tugend ein Zustand oder eine Eigenschaft sein, die auf Gott hin richtet und nicht auf das Thätigsein hin. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2 Ethic 6.): „Tugend einer jeden Sache will das bezeichnen, was die Thätigkeit dieser Sache zu einer guten macht.“
b) Ich antworte, Tugend sei eine gewisse Vollendung des betreffenden Vermögens. Da also ein Vermögen es giebt zum Sein hin wie zur Thätigkeit hin, so kann die Vollendung von beiderlei Vermögen als Tugend bezeichnet werden. Nun hält sich das Vermögen, um einfach thatsächliches Sein zu haben, auf seiten des Stoffes, der seiner Natur nach ein.Sein dem Vermögen nach ist; das Vermögen aber, um thätig zu sein, hält sich auf seiten der bestimmenden Wesensform, die da Princip der Thätigkeit, nicht des Leidens oder Empfangens ist; denn jegliches Ding ist thätig, je nachdem es bestimmtes thatsächliches Sein hat. Beim Menschen nun ist der Körper wie der Stoff, die Seele wie die bestimmende Form. Und sonach steht, soweit es auf den Körper ankommt, der Mensch auf derselben Stufe wie die anderen sinnbegabten Wesen; und ebenso, soweit es auf die Kräfte ankommt, welche dem Körper oder der Seele gemeinsam sind. Die vernünftigen Kräfte allein sind dem Menschen an sich, weil er nämlich eine vernünftige Seele hat, eigen. Die menschliche Tugend also, von der wir hier sprechen, kann nicht dem Körper angehören, sondern kann nur der Seele eigen sein. Also schließt die menschliche Tugend keine Beziehung zum Sein in sich ein, sondern vielmehr zum Thätigsein. Also ist sie ein thätig wirksamer Zustand.
c) I. Die Art und Weise des Thätigseins folgt der Verfassung im Sein des Wirkenden; wie jedes Ding Sein hat, so ist es thätig. Weil also die Tugend das Princip irgend welcher Thätigkeit ist, so muß im Sein des Wirkenden eine gewisse Verfassung sich finden, welche der Tugend entspricht und ihr gleichförmig ist. Die Tugend nun bewirkt, daß die Thätigkeit eine georonete sei. Und deshalb ist die Tugend selber eine geordnete Verfassung in der Seele; je nachdem die der Seele eigenen Vermögen gegenseitig geordnet sind und nach außen hin zu etwas Beziehung haben. Demnach nun wird die Tugend als der Schönheit und Gesundheit ähnlich bezeichnet, weil sie eine der Seele zukömmliche Verfassung ist, wie die Gesundheit und Schönheit dem Körper gebührende Verfassungen sind. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß die Tugend ein Princip des Thätigseins sei. II. Nur die Tugend, welche sich auf die Werke der Vernunft richtet, ist im eigentlichen Sinne eine menschliche. III. Gottes Wesen ist Thätigsein. Also ist die Verähnlichung mit Ihm nur möglich durch Thätigkeit. Und danach besteht ja auch die letzte Vollendung des Menschen, die Seligkeit nämlich, im Thätigsein.
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