Erster Artikel. Die moralische Tugend ist nicht Leidenschaft.
a) Dies scheint jedoch. Denn: I. Was in der Mitte steht ist derselben Art zugehörig wie die äußersten Endpunkte. Die moralische Tugend aber hält die Mitte ein zwischen den Leidenschaften. Also ist sie selber Leidenschaft. II. Tugend und Laster gehören der nämlichen Seinsart an. Manche Leidenschaften aber gelten als Laster; wie Neid und Zorn. Also sind andere Leidenschaften Tugenden. III. Das Mitleid ist eine Leidenschaft; denn es ist „Leid mit der Trauer anderer“, wie Kap. 35, Art. 8. gesagt worden. „Cicero aber“ so Augustin (9. de civ. Dei 5.) „ein ausgezeichneter Redner, trug kein Bedenken, das Mitleid oder die Barmherzigkeit Tugend zu nennen.“ Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2 Ethic. 5.): „Die Leidenschaften sind weder Tugenden noch Laster.“
b) Ich antworte, keine moralische Tugend kann Leidenschaft sein. Denn: 1. Die Leidenschaft ist eine Bewegung oder Thätigkeit im sinnlichen Begehren; die moralische Tugend aber ist keine Thätigkeit, sondern vielmehr als Zustand dastehend Princip für Thätigsein. 2. Die Leidenschaften haben von sich aus weder den Charakter des Guten noch den des Bösen; denn dies hängt von dem Verhältnisse zur Vernunft ab, so daß, sind die Leidenschaften der Vernunft gemäß, sie gut sind; weichen sie von dieser Richtschnur ab, so sind sie schlecht. Die Tugend aber ist immer nur auf das Gute gerichtet, ist also wesentlich etwas Gutes. 3. Vorausgesetzt auch daß eine Leidenschaft nur zum Guten hingewendet sei oder nur zum Bösen, so hat sie doch, insoweit sie Leidenschaft ist, ihren Beginn im sinnlichen Begehren selber und höchstens ihren Abschluß in der Vernunft, der sie gleichförmig zu sein verlangt. Die Tugend aber hat den Beginn in der Vernunft und den Abschluß im Begehren, soweit dieses von der Vernunft aus in Thätigkeit gesetzt ist. Deshalb sagt Aristoteles „die moralische Tugend sei ein Zustand, um eine gute Auswahl zu treffen, je nachdem der Weise die Mitte, welche die Vernunft einhält, festgesetzt hat.“
c) I. In ihrer Wirkung betrachtet stellt die Tugend die richtige Mitte auf zwischen den Leidenschaften; nicht ihrem Wesen nach. II. Wenn Laster ein Zustand heißt, vermittelst dessen jemand schlecht handelt, so ist keine Leidenschaft Laster. Wenn aber Laster genannt wird die Sünde als lasterhafte Thätigkeit, so kann eine Leidenschaft Laster genannt werden, je nachdem sie der Vernunft entgegen ist. III. Mitleid wird Tugend genannt als tugendhafter Akt, „je nachdem der Vernunft jene Bewegung oder Thätigkeit dient; sei es daß Barmherzigkeit gewährt wird, um der Gerechtigkeit zu dienen, sei es um dem Bedürftigen mitzuteilen, sei es um dem Reuigen zu verzeihen,“ sagt Augu stin. (I. c.) Wird jedoch Barmherzigkeit ein Zustand genannt, gemäß dem der Mensch vollendet wird, um vernunftgemäß Erbarmung zu üben, so ist das eine Tugend; und dasselbe gilt von ähnlichen Leidenschaften.
