Zweiter Artikel. Die moralische Tugend und ihr Beisammensem mit der Leidenschaft.
a) Es scheint, die moralische Tugend könne nicht mit der Leidenschaft zusammen sein. Denn: I. Aristoteles sagt (4 Top. 5.): „Sanftmütig ist, wer nicht leidet; geduldig, wer leidet und nicht sich verführen läßt.“ Das Nämliche gilt aber von allen moralischen Tugenden. Also jede moralische Tugend muß ohne Leidenschaft sein. II. Die Tugend ist ein rechtes Verhalten der Seele, wie die Gesundheit des Körpers, heißt es 7 Physic.; so daß Cicero (4 Tuscul.) die Tugend als „Gesundheit der Seele“ bezeichnet. Die Leidenschaften aber sind nach demselben Cicero „Krankheiten der Seele.“ Also ist keine Tugend mit Leidenschaft. III. Die moralische Tugend erfordert richtigen Gebrauch der Vernunft. Diesen aber gerade hindert die Leidenschaft. „Die Ergötzlichkeiten verderben die Abschätzung der Klugheit,“ sagt Aristoteles (6 Ethic. 5.); und Sallust (Catilinar. princ. orat. Caesaris): „Nicht leicht sieht der Geist das Wahre, wo jene, die Leidenschaften, im Wege stehen.“ Auf der anderen Seite sagt Augustin (14. de civ. Dei 6.): „Wenn verkehrt ist der Wille, so wird er als verkehrte haben diese Bewegungen (der Leidenschaften); ist er gerade, so werden letztere nicht nur schuldlos sein, sondern lobenswert.“ Nichts Lobenswertes aber wird durch die moralische Tugend ausgeschlossen. Also verträgt sich die Tugend mit den Leidenschaften.
b) Ich antworte, die Stoiker meinten, nach Augustin (9. de civ. Dei 4.), im Tugendhaften oder Weisen seien keine Leidenschaften; die Peripatetiker aber unter Führung des Aristoteles, die Tugend vertrage sich wohl mit den Leidenschaften, doch müßten letztere geregelt sein. Dieser Unterschied ist nach Augustin mehr ein in Worten als in der Sache selber bestehender. Denn die Stoiker unterschieden nicht so die Leidenschaften von den Neigungen des vernünftigen Begehrens, daß sie jene als Neigungen des sinnlichen Teiles etwa auffaßten und diese als dem vernünftigen Teile angehörig, wie dies die Peripatetiker thaten. Vielmehr nannten die Stoiker alle der Vernunft zuwiderlaufenden Neigungen der Seele ohne Unterschied „Leidenschaften“; und sagten demgemäß, sie könnten wohl plötzlich im Weisen auftauchen, aber sie blieben da nicht. „Es ist nicht in unserer Gewalt,“ so meinten sie nach Augustin (I. c.), „die Phantasiebilder zu hindern, daß sie ungeregelte Bewegungen in uns erzeugen; wie z. B. der Schrecken auch die Seele des Weisen bewegt, so daß er, freilich nur ein klein wenig, blaß wird und zittert; gleichsam als ob diese Leidenschaften der Arbeit der Vernunft zuvorkämen; — aber er stimmt nicht zu und billigt sie nicht.“ So also, als ungeregelte Bewegungen, können die Leidenschaften nicht im Tugendhaften sein, so daß er ihnen beistimme. Das sagten die Stoiker mit Recht. Werden aber Leidenschaften genannt einfach die Bewegungen oder Thätigkeiten des sinnlichen Begehrens, so können sie im Tugendhaften sein; insoweit sie nämlich geregelt sind durch die Vernunft. Deshalb sagt Aristoteles (2 Ethic. 3.): „Nicht gut bezeichnen manche die Tugenden schlechthin als eine gewisse stumpfe Ruhe und Gleichgültigkeit; wohl aber müßten sie sagen, die Tugenden seien die Ruhe gegenüber den Leidenschaften, wenn diese nicht so sind wie sie sein sollen und wann sie sein sollen.“
c) I. Jenes Beispiel führt Aristoteles, wie er dies in seinen logischen Abhandlungen oft thut, an aus den Meinungen anderer; nicht aus der eigenen Ansicht. Dies war aber die Meinung der Stoiker, daß die Tugend durchaus sei ohne Leidenschaft. Er weist sie I. c. zurück, da er meint, die Tugend sei keine stumpfe Gleichgültigkeit. Nichtsdestoweniger kann noch gesagt werden, der Sanftmütige leide nicht gemäß der ungeordneten Leidenschaft. II. Alle jene Stellen beziehen sich auf die Leidenschaften als ungeregelte Neigungen. III. Die Leidenschaft, welche dem Urteile der Vernunft voraufgeht und vorwiegt, so daß man ihr beistimmt, hindert dieses Urteil; folgt sie aber auf Befehl der Vernunft, so stärkt sie die Vernunft soweit die Ausführung des vernünftigen Befehls in Betracht kommt.
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