Vierter Artikel. Nicht jede moralische Tugend beschäftigt sich mit den Leidenschaften.
a) Dies scheint der Fall. Denn: I. Aristoteles (2 Ethic. 3.) sagt: „Mit den Ergötzlichkeiten und Traurigkeiten beschäftigt sich die moralische Tugend.“ Dies aber sind Leidenschaften. II. „Das was am Vernünftigen nur Anteil hat (nicht dem Wesen nach es ist) ist Träger oder Subjekt der moralischen Tugenden“ heißt es 1 Ethic. ult. Dies ist aber eben der Teil der Seele, wo die Leidenschaften sind, wie Kap. 22, Art. 3. gesagt worden. III. Bei jeder moralischen Tugend ist eine Leidenschaft zu finden. Alle also beschäftigen sich mit den Leidenschaften oder keine. Nun ist die Stärke und die Mäßigkeit auf die Leidenschaften gerichtet. Also sind es alle. Auf der anderen Seite beschäftigt sich die Gerechtigkeit, also eine moralische Tugend, nicht mit den Leidenschaften.
b) Ich antworte, die moralische Tugend vollende den begehrenden Teil und ordne denselben zum Besten der Vernunft hin. Dies aber ist das Beste der Vernunft, daß etwas gemäß der Vernunft bemessen und geordnet ist. Rücksichtlich von dem Allem also, was durch die Vernunft sein Maß erhalten und geregelt werden kann, besteht eine moralische Tugend. Die Vernunft nun ordnet nicht nur und regelt nicht nur die Leidenschaften des sinnlich begehrenden Teiles, sondern auch die Thätigkeiten des vernünftigen Begehrens, des Willens nämlich. Sowohl also mit den Leidenschaften wie mit den Thätigkeiten beschäftigt sich die moralische Tugend.
c) I. Die moralische Tugend beschäftigt sich mit den Ergötzlichkeiten und Traurigkeiten als mit etwas, was der ihr eigens entsprechenden Thätigkeit folgt. Denn jeder Tugendhafte ergötzt sich am Akte der Tugend und trauert über das Gegenteil. Deshalb fügt Aristoteles l. c. hinzu: „Wenn die Tugenden sich beschäftigen mit Thätigkeiten und Leidenschaften; aller Thätigkeit und Leidenschaft aber ein Ergötzen ober ein Trauern folgt, so wird sonach die Tugend sich beschäftigen mit Ergötzlichkeiten und Traurigkeiten“; als mit dem, was dem Thätigsein und dem Leiden folgt. II. Nicht nur das sinnliche Begehren ist vernünftig dem Anteile nach, sondern auch der Wille ist es; er ist nicht die Vernunft. In ihm sind aber keine Leidenschaften. III. Bei manchen Tugenden sind Leidenschaften wie der eigens entsprechende Gegenstand, wie ihre Materie; bei anderen aber nicht. Deshalb gilt nicht dasselbe von allen Tugenden. (Vgl. Kap. 60.)
