Fünfter Artikel. Jede moralische Tugend ist begleitet von einer Leidenschaft.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Je vollkommener eine Tugend ist, desto mehr überwindet sie die Leidenschaften. Ist sie also im höchsten Grade vorhanden, so findet sie sich ohne die Begleitung irgend einer Leidenschaft. II. Ein jegliches Wesen ist vollkommen, wenn es fern ist von seinem Gegensatze und von dem, was zum Gegensatze hinneigt. Die Leidenschaften aber neigen hin zur Sünde; weshalb sie Röm. 7. „die Leidenschaften der Sünden“ genannt werden. Also ist die vollkommene Tugend fern von aller Leidenschaft. III. Gemäß der Tugend werden wir Gott gleichförmig. Gott aber wirkt ohne alle Leidenschaft. (Vgl. Aug. de morib. Eccl. cap. 6.) Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1 Ethic. 8.): „Es giebt keinen Gerechten, der sich nicht freut an der gerechten That.“ Freude aber ist eine Leidenschaft. Also die Gerechtigkeit selber ist immer von einer Leidenschaft begleitet und um so mehr die anderen Tugenden.
b) Ich antworte; offenbar sind die Tugenden, sobald sie vollkommen sind, fern von aller ungeregelten Leidenschaft im Sinne der Stoiker. Sprechen wir aber von den Leidenschaften als schlechthin Bewegungen oder Thätigkeiten des sinnlichen Begehrens, so können zuvörderst jene moralischen Tugenden, welche zum Gegenstande haben die Regelung der Leidenschaften, niemals ohne Leidenschaften sein. Der Grund davon ist, daß im gegenteiligen Falle die Tugend das sinnliche Begehren zu etwas ganz und gar Müßigem machen würde. Dies aber kann nicht die Aufgabe der Tugend sein, daß die Vermögen, welche der Bestimmung seitens der Vernunft unterliegen, ihrer eigentlichsten Thätigkeit ermangeln; sondern vielmehr muß sie danach streben, daß diese Vermögen den Befehl der Vernunft in der ihnen eigenen Thätigkeit genau ausführen. Wie also die Tugend die Glieder des Körpers regelt, damit sie je in ihrer Weise thätig sind, so ordnet sie auch in derselben Weise das sinnliche Begehren. Die Gerechtigkeit aber, welche mit den Thätigkeiten und nicht mit den Leidenschaften sich befaßt, kann wohl an und für sich ohne Leidenschaft sein. Jedoch folgt auf den Akt der Gerechtigkeit Freude, zum mindesten im Willen. Und wenn durch die Vermehrung dieser Akte und die Vollendung der Gerechtigkeit diese Freude vermehrt wird und überfließt auf das sinnliche Begehren, je nachdem die niederen Kräfte von den höheren in Thätigkeit gesetzt werden; so wird dadurch auch die Freude als Leidenschaft verursacht und somit ist auch die Gerechtigkeit mit der Leidenschaft verträglich.
c) I. Die Tugend zügelt die ungeregelten und bringt hervor die geregelten Leidenschaften. II. Ungeregelte Leidenschaften neigen zur Sünde hin. III. Das Gute wird beachtet je nach der Natur desjenigen, der es hat. In Gott und den Engeln nun ist kein sinnliches Begehren; und somit ist auch ihr Thätigsein ohne Leidenschaft, wie es ja auch ohne einen Körper sich vollzieht. Beim Menschen ist dies nicht der Fall.
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