Erster Artikel. Es giebt deren mehrere.
a) Nur eine moralische Tugend besteht. Denn: I. Wie in den moralischen Akten die Angabe der Richtung oder die Leitung angehört der Vernunft, die da Träger verschiedener Tugenden ist; — so gehört der begehrenden Kraft die Hinneigung zum betreffenden Zwecke an, die da Träger der moralischen Tugenden ist. Nun besteht aber nur eine Tugend in der Vernunft, welche in allen moralischen Thätigkeiten leitet und richtet; nämlich die Klugheit. Also besteht auch nur eine moralische Tugend, welche hinneigt in den moralischen Thätigkeiten. II. Die Zustände werden unterschieden; nicht nach dem materialen Bestande der Gegenstände, sondern nach dem einen formal bestimmenden Unterscheidungsgrunde in den Gegenständen. Der formal bestimmende Unterscheidungsgrund für das Begehren aber ist der Grund des Guten in den Gegenständen, weshalb diese nämlich gut sind; und zwar abgemessen von der Vernunft. Da also dieser formale Unterscheidungsgrund nur einer ist, so giebt es nur eine moralische Tugend. III. Das Moralische erhält seine besondere Gattung vom Zwecke. Der gemeinsame Zweck aller moralischen Thätigkeit aber ist nur einer, die Glückseligkeit. Also giebt es nur eine moralische Tugend. Wollte man aber an die nächsten Zwecke der moralischen Thätigkeit denken und sagen, danach seien mehrere entsprechendeTugenden, so müßte man deren unendlich viele annehmen; denn unendlich viele sind der einzelnen nächsten Zwecke, auf welche der moralische Akt sich richten kann. Auf der anderen Seite kann nicht nach Kap. 56, Art. 2. der eine nämliche Zustand in mehreren verschiedenen Vermögen sein. Träger der moralischen Tugenden aber ist der begehrende Teil, der sich in mehrere Vermögen scheidet. Also ist es falsch, daß es nur eine moralische Tugend giebt.
b) Ich antworte; die moralischen Tugenden sind Zustände des begehrenden Teiles. Die Zustände aber sind der Gattung nach unterschieden gemäß der besonderen Verschiedenheit in den Gegenständen, die einen solchen Gattungsunterschied zu begründen vermag. Nun ist die Gattung eines begehrbaren Gegenstandes, wie auch einer jeden Sache, zu beachten gemäß der bestimmenden Wesensform, die vom einwirkenden Grunde herrührt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß das bestimmbare Moment im Leidenden oder Empfangenden sich doppeltermaßen zur einwirkenden Ursache verhält. Denn bisweilen empfängt es die bestimmende Form nach ganz demselben Wesen, wie selbiges in der einwirkenden Ursache ist; und das ist der Fall in allen solchen Ursachen, die mit ihrer Wirkung Namen und Wesen gemeinsam haben, in agentibus univocis; wie z. B. vom Feuer wieder etwas gezeugt wird, was in der nämlichen Wesensform des Feuers seine Existenz hat. Bisweilen aber empfängt das Bestimmbare die bestimmende Form von seiten der einwirkenden Ursache nicht gemäß demselben Wesen; wie z. B. die Sonne beiträgt zur Erzeugung des Tieres. Und dann sind die bestimmenden Formen, soweit sie im Bestimmbaren empfangen sind, nicht desselben Wesens wie die Formen in den einwirkenden Ursachen, sondern unterscheiden sich gemäß der verschiedenen Fähigkeit im Bestimmbaren für die Aufnahme des Einflusses der einwirkenden Ursache; wie z. B. durch das eine Einwirken des Sonnenlichtes erzeugt werden vermittelst des in Fäulnis übergegangenen Stoffes Tiere verschiedener Gattungen, gemäß den verschiedenen Verhältnissen im Stoffe und dessen verschiedener Fähigkeit für Aufnahme des wirkenden Einflusses. Nun ist es offenbar, daß im Bereiche des Moralischen die Vernunft ist wie einwirkend, maßgebend, bewegend; und der begehrende Teil ist wie empfangend, bestimmbar, in Bewegung gesetzt. Der begehrende Teil aber empfängt den Eindruck seitens der Vernunft nicht in der erstgenanten Weise, nicht univoce; denn er wird nicht dem Wesen nach Vernunft, wie das erzeugte Feuer wieder Feuer dem Wesen nach ist, sondern der begehrende Teil ist immer nur dem Anteile nach, weil er den wirkenden Einfluß seitens der Vernunft in sich aufnimmt, vernünftig. Sonach werden die begehrbaren Dinge gemäß der von der Vernunft ausgehenden Bewegung und Bestimmung in verschiedene Gattungen verteilt, je nachdem sie in verschiedenem Verhältnisse stehen zur Vernunft; und so folgt, daß die moralischen Tugenden nach verschiedenen Gattungen eingeteilt werden und somit der Gattung nach verschieden sind; daß es also nicht eine nur giebt.
c) I. Der Gegenstand der Vernunft ist das Wahre. Das Wesen des Wahren aber bleibt im ganzen Bereiche des Moralischen immer das nämliche; und somit besteht nur eine Tugend, die danach leitet; nämlich die Klugheit. Der Gegenstand der begehrenden Kraft aber ist das begehrbare Gute; und das ist dem bestimmenden Wesen nach verschieden je nach dem verschiedenen Verhältnisse zur Vernunft, die da leitet. II. Jenes formal Bestimmende ist allerdings eine Einheit der „Art“ nach wegen der Einheit der einwirkenden Kraft, der Vernunft; aber es teilt sich in verschiedene Gattungen wegen der verschiedenen Verhältnisse der aufnehmenden Vermögen. III. Die moralischen Thätigkeiten haben ihre Gattung nicht vom letzten Zwecke her, sondern vom nächsten. Dieser nächsten Zwecke wären nun allerdings wohl endlos viele, wenn bloß die Zahl in Betracht gezogen wird; aber sie sind dies nicht der Gattung oder ihrer eigenartigen Beziehung zur Vernunft nach.
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