Vierter Artikel. Die Verschiedenheit in den Leidenschaften macht einen Unterschied in den moralischen Tugenden.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Wo der Anfang und das Ende gemeinsam ist, das Alles umfaßt der nämliche Zustand; wie dies bereits bei den Wissenschaften klar erscheint. Nun haben alle Leidenschaften den gleichen Anfang, die Liebe; alle münden ebenso im Ergötzen oder in der Trauer. Also befaßt sich mit ihnen nur eine moralische Tugend. II. Würden verschiedene Leidenschaften verschiedene Tugenden begründen, so müßten so viele Tugenden sein wie Leidenschaften. Das ist aber falsch. Denn für zwei entgegengesetzte Leidenschaften ist immer ein und dieselbe Tugend. Also sind nicht verschiedene Tugenden, weil verschiedene Leidenschaften sind. III. Liebe, Begehren, Ergötzen sind der Gattung nach verschiedene Leidenschaften. Sie alle aber regelt die eine Tugend der Mäßigkeit. Also ist da überhaupt nur eine moralische Tugend für alle Leidenschaften. Auf der anderen Seite befaßt sich die Stärke mit der Furcht und der Kühnheit; die Mäßigkeit mit den Begierlichkeiten; die Sanftmut mit dem Zorne. (3 Ethic 6.)
b) Ich antworte; schon weil gewisse Leidenschaften zu verschiedenen Vermögen gehören, wie dies die Begehr- und Abwehrkraft ist, müssen hier verschiedene Tugenden sein. Jedoch nicht jede Verschiedenheit in den Leidenschaften genügt, um einen Unterschied in den Tugenden zu begründen: 1. weil sich Leidenschaften konträr gegenüberstehen, wie Furcht und Kühnheit, Trauer und Freude etc.; und für solche Gegensätze nur eine Tugend sein kann, da ja die moralische Tugend darin eben besteht, daß sie die Mitte zieht in solchen Gegensätzen; wie auch im Bereiche des rein Natürlichen ein und dasselbe die Mitte bildet zwischen Gegensätzen z. B. zwischen weiß und schwarz; — 2. weil mehrere Leidenschaften in der gleichen Weise der Vernunft zuwider sind, indem sie antreiben zu Vernunftwidrigem oder abziehen vom Vernunftgemäßen und danach gehören die verschiedenen Leidenschaften der Begehrkraft nur einer Tugend an; denn sie stehen in einem gewissen Verhältnisse zu einander und folgen sich, wie das Ergötzen dem Begehren, das Begehren der Liebe in der Verfolgung eines Guten und ebenso im Fliehen vor dem Übel. Die Leidenschaften der Abwehrkraft aber sind nicht der nämlichen Ordnung angehörig; sondern richten sich auf Verschiedenes. Denn die Kühnheit und die Furcht haben Beziehung auf eine große Gefahr; die Hoffnung und die Verzweiflung auf ein schwer zu erreichendes Gut; und der Zorn hat Beziehung auf einen Gegensatz, der Schaden angethan hat. Also die Mäßigkeit befaßt sich mit den Leidenschaften der Begehrkraft; die Stärke mit der Furcht und Kühnheit; die Großmut mit der Hoffnung und Verzweiflung; die Sanftmut mit dem Zorne. v) I. Alle Leidenschaften kommen schließlich überein in einem gemeinsamen Anfange und in einem gemeinfamen Ende. Nicht aber ist der den einzelnen Leidenschaften ihrer Natur nach eigene und unmittelbar entsprechende Anfang der gleiche; und ähnlich ist nicht das Ende für alle das gleiche, soweit die eigene Natur der einzelnen Leidenschaft in Betracht kommt. II. Ist oben beantwortet. III. Alle Leidenschaften der Begehrkraft haben eine gewisse Ordnung untereinander, wie eben gesagt, und gehören somit zu einer einzigen moralischen Tugend.
