Zweiter Artikel. Die moralischen Tugenden, welche sich mit den Thätigkeiten befassen, sind verschieden von jenen, die sich mit den Leidenschaften beschäftigen.
a) Es scheint nicht, daß dies einen Unterscheidungsgrund abgiebt. Denn: I. Aristoteles sagt (2 Ethic. 3.): „Die moralische Tugend befaßt sich mit Ergötzlichkeiten und Traurigkeiten und ist in ihrem Wirken auf das im höchsten Grade Gute gerichtet.“ Ergötzlichkeiten und Traurigkeiten aber sind gewisse Leidenschaften. Also die nämliche Tugend, welche sich mit den Thätigkeiten befaßt, beschäftigt sich auch mit den Leidenschaften; denn sie ist auf das Wirken gerichtet. II. Die Leidenschaften sind Principien für nach außen gerichtete Thätigkeiten. Regeln also einige Tugenden die Leidenschaften, so regeln sie auch folgerichtig die Thätigkeiten. Somit richten sich die gleichen moralischen Tugenden auf Leidenschaften und Thätigkeiten. III. Zu jeder äußeren Thätigkeit hin ist das sinnliche Begehren in Bewegung entweder gut oder schlecht, vernunftgeniäß oder nicht vernunftgemäß. Die Bewegungen des sinnlich begehrenden Teiles aber heißen Leidenschaften. Also die gleichen Tugenden, die sich mit den Thätigkeiten befassen, gehen auch auf die Leidenschaften. Auf der anderen Seite stellt Aristoteles (2 Ethic. 3.) die Gerechtigkeit hin als Tugend, die sich mit den Thätigkeiten befaßt; die Mäßigkeit, Stärke und Sanftmut als Tugenden, welche auf die Leidenschaften gerichtet sind.
b) Ich antworte, Leiden und Thätigsein können in doppelter Weise verglichen werden mit der Tugend: einmal wie die Wirkung; und so hat jede moralische Tugend einige Thätigkeiten, die sie hervorbringt; und ebenso Ergötzen oder Trauer, also Leidenschaften, zur Folge; — dann als Gegenstand oder Stoff der Tugend, mit dem sie sich befaßt; und so müssen andere Tugenden sein jene, welche die Thätigkeiten regeln, und andere, welche den Leidenschaften die Richtschnur ziehen. In gewissen Thätigkeiten nämlich wird der Charakter des Guten und Bösen gemäß diesen Thätigkeiten selber beachtet, wie nämlich der Mensch sich zu ihnen verhält, insofern das Gute und Böse in diesen Thätigkeiten beurteilt wird gemäß der Abmessung des Verhältnisses zu einem anderen Menschen; und in Derartigem muß eine Tugend vorhanden sein, welche diese Thätigkeiten abmißt nach deren eigenem objektiven Werte nicht nach dem Guten oder nach der Verfassung des handelnden Subjekts; wie z. B. solche Thätigkeiten sind Kauf und Verkauf u. dgl., wo das Verhältnis der Schuld oder Nichtschuld mit Rücksicht auf einen anderen maßgebend ist. Deshalb richtet sich die Gerechtigkeit mit ihren Teilen auf solche Thätigkeiten als auf ihre eigenste Materie. In anderen Thätigkeiten aber wird das Gute und Böse einzig bemessen gemäß deren Verhältnisse zum Handelnden; und so wird hier der Charakter des Guten und Bösen beurteilt, je nachdem der Mensch sich gut oder schlecht zu dergleichen verhält. Und deshalb befassen sich da die Tugenden an erster Stelle mit den innerlichen Neigungen, welche Leidenschaften der Seele genannt werden. Vernachlässigt man nun in den Thätigkeiten, die auf den Mitmenschen gehen, das Gute der Tugend wegen einer ungeordneten Leidenschaft der Seele und wird dadurch das Verhältnis der in ihrem Maße von außen abhängigen Thätigkeit verletzt, so wird dadurch die Gerechtigkeit verletzt und verdorben. Vernachlässigt man aber die Abmessung der inneren Leidenschaften gegenseitig gemäß der vernünftigen Richtschnur, so ist eine andere Tugend verletzt. So wird, wenn jemand aus Zorn einen anderen schlägt, dadurch daß der andere ungebührenderweise geschlagen worden, die Gerechtigkeit verletzt; das Unmaß des Zornes selber aber bedeutet die Verletzung der Sanftmut.
c) I. Dieser Einwurf geht aus von der Wirkung. II. und III. In manchen Akten richtet sich die Tugend an erster Stelle auf die äußere Thätigkeit; in anderen Akten auf die Leidenschaft; wie eben auseinandergesetzt worden.
