Erster Artikel. Die Erbsünde ist ein Zustand.
a) Dagegen wird geltend gemacht: I. Die Erbsünde ist der Mangel der Urgerechtigkeit. Der Mangel aber ist entgegengesetzt dem Zustande. II. Diepersönliche aktuelle Sünde hat mehr Schuld in sich wie die Erbsünde; denn sie schließt mehr Freiwilligkeit ein. Der Zustand aber für eine solche persönliche Sünde ist keine Sünde; sonst würde folgen, daß der Mensch im Schlafe sündigte. Also noch weniger würde dies bei der Erbsünde der Fall sein, wenn sie ein Zustand wäre. III. Im Bereiche des Bösen geht die Thätigkeit immer voran dem Zustande, der ja durch Thätigkeiten entsteht. Der Erbsünde aber geht keinerlei Thätigkeit oder Akt im einzelnen Menschen voran. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de Baptisma pueror.): „Gemäß der Erbsünde haben die kleinen Kinder den Zustand der Begierlichkeit, wenn sie auch nicht thätsächlich begehren.“
b) Ich antworte, ein Zustand könne entweder einem Vermögen zugehören und da verursachen, daß dasselbe hingeneigt sei zu einer gewissen Thätigkeit, wie in dieser Weise die Wissenschaften und Tugenden Zustände sind; — oder er ist eine Verfassung in der Natur des betreffenden Wesens selber, das aus vielen Vermögen besteht, und gemäß dieser Verfassung verhält sich dieses Wesen gut oder schlecht zu etwas; wie z. B. Krankheit und Gesundheit. Auf diese letztere Weise ist die Erbsünde ein Zustand. Denn sie ist eine ungeregelte Verfassung, die da herrührt aus der Zerstörung jener Harmonie, in welcher bestand der Charakter der Urgerechtigkeit, wie ja auch die körperliche Krankheit eine gewisse ungeordnete Verfassung ist, gemäß welcher aufgelöst wird die Gleichmäßigkeit, in der das Wesen der Gesundheit besteht. Deshalb heißt die Erbsünde: „die Auszehrung, das Hinschwinden der Natur“ languor naturae.
c) I. Wie die Krankheit einen Mangel hat, nämlich den der Gleichmäßigkeit der Gesundheit; und etwas Positives, nämlich die Säfte selber, welche in ungeordneter Verfassung sind; — so besteht in der Erbsünde der Mangel der Urgerechtigkeit und das ungeordnete Verhältnis in den Seelenkräften. II. Die persönliche, durch die eigene That begangene Sünde ist eine Regellosigkeit im Thätigsein; die Erbsünde, als Sünde der Natur, ist eine regellose Verfassung in der Natur selber, welche den Charakter der Schuld trägt, insoweit sie sich ableitet vom ersten Stammvater. Derartige Verfassungen in der Natur nun tragen den Charakter eines Zustandes; die ungeregelte Thätigkeit aber trägt nicht den Charakter eines Zustandes. Und sonach ist wohl die Erbsünde ein Zustand, nicht aber die persönliche. III. Die Erbsünde ist kein Zustand, der ein Vermögen zur Thätigkeit hinneigte. Eine solche Hinneigung zu ungeordneter Thätigkeit folgt wohl aus der Erbsünde; nicht aber direkt, sondern indirekt, mittelbar, insoweit die Erbsünde das Hindernis für die ungeregelte Thätigkeit, die Urgerechtigkeit, entfernt; wie auch aus körperlicher Krankheit mittelbar folgt eine Neigung zu ungeordneten Bewegungen. Die Erbsünde ist kein eingegossener oder durch Akte erworbener Zustand (außer im ersten Stammvater), sondern ein vermittelst des Ursprunges eingeborener fehlerhafter Zustand.
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