Vierter Artikel. Das Naturgesetz ist das eine. nämliche für alle Menschen. .
a) Dagegen spricht: I) Der Grundsatz in den decreta (dist. 1. in praeludio): „Naturgesetz ist das, was im Gesetze und im Evangelium enthalten erscheint.“ Das ist aber nicht für alle gemeinsam, nach Röm. 10.: „Nicht alle gehorchen dem Evangelium.“ II. „Was nach dem Gesetze sich richtet, wird als gerecht bezeichnet;“ heißt es 5 Ethic. 1. Im selben Buche aber c 10 steht: „Nichts ist bei allen als gerecht erachtet, ohne daß es bei den einzelnen gewisse Verschiedenheiten erführe.“ Also ist das Naturgesetz nicht das nämliche bei allen. III. Zum Naturgesetze gehört das, wozu der Mensch gemäß seiner Natur hingeneigt ist. Verschiedene Menschen aber haben verschiedene natürliche Neigungen. Also. Auf der anderen Seite sagt Isidorus (5 Etymol. 4.): „Das Naturgesetz ist allen gemeinsam.“
b) Ich antworte, zum Naturgesetze gehöre das, wozu der Mensch von Natur hinneige. Darunter aber ist es dem Menschen als solchem eigen, daß er dazu hinneige, gemäß der Vernunft zu handeln. Nun ist es Sache der Vernunft, vom Allgemeinen zum Besonderen vorzuschreiten. (1. Physic.) Während jedoch im Bereiche der rein beschaulichen Vernunft der Gegenstand des vernünftigen Vorgehens das Notwendige ist, was unmöglich anders sich verhalten kann, und sonach ohne Fehl die Wahrheit gefunden wird sowohl in den regelrechten Schlußfolgerungen wie in den allgemeinen Grundprincipien; — so wächst bei der auf das praktisch Thätige gerichteten Vernunft der Fehl und das Mangelhafte, je mehr sie sich von den allgemeinen Grundwahrheiten entfernt und zum Besonderen, zu den für die einzelne Thätigkeit nämlich passenden Wahrheiten hinabsteigt. So ist also im Bereiche des Spekulativen, Beschaulichen die nämliche feste Wahrheit sowohl in den Schlußfolgerungen wie in den Principien, wenn sie auch nicht bei allen gekannt ist, soweit es die einzelnen Schlußfolgerungen betrifft. Im Bereiche der als direkte Richtschnur für die menschliche Thätigkeit dienenden Vernunft aber gilt nicht die nämliche Wahrheit oder praktische Geradheit für alle, soweit es die besonderen einzelnen Handlungen betrifft, sondern nur mit Rücksicht auf die allgemeinen Principien. Zum Beispiel ist es bei allen eine Wahrheit, daß das Dreieck drei Winkel und zwei R hat, wenn dies auch nicht von allen gewußt wird. Bei den besonderen Folgerungen der praktischen Vernunft aber ist nicht immer die gleiche Wahrheit; und trifft das auch zu, so braucht sie nicht immer allen bekannt zu sein. Bei allen z. B. ist es anerkannt als allgemeine Wahrheit, man müsse gemäß der Vernunft handeln. Daraus geht wie eine eigens entsprechende Folgerung hervor, das jemandem Anvertraute müsse dieser zurückgeben. Dies ist auch für die meisten Fälle eine gültige Wahrheit, nicht aber für alle einzelnen Fälle ist dies wahr. Denn es kann sich treffen, daß im einzelnen Falle es schädlich und gegen die Vernunft sei, das Anvertraute zurückzugeben; wie wenn jemand danach verlangt, um sein Vaterland zu bekriegen. Und je mehr da in einzelne besondere Fälle hinabgestiegen wird, desto mehr kann die betreffende Wahrheit als Wahrheit nicht bestehen; wie wenn man sagt, das Anvertraute ist unter diesen oder jenen Bedingungen zurückzugeben. Je mehr da solcher Bedingungen hinzugefügt sind, desto leichter kann es zutreffen, daß es nicht wahr sei, man müsse zurückgeben oder man müsse nicht zurückgeben. Demgemäß ist das Naturgesetz, soweit es auf die ersten allgemeinen Principien ankommt, immer das nämliche. Soweit aber es einzelne besondere Fälle betrifft, wo Wahrheiten in Frage kommen, welche gleichsam die Folgerungen sind aus den allgemeinen Wahrheiten, ist es dasselbe für alle in den meisten Fällen, sowohl rucksichtlich der Erlaubtheit der Handlung wie rücksichtlich der Kenntnis des Gesetzes. In einzelnen Fällen jedoch kann ein Mangel eintreten sowohl was die moralische Erlaubtheit betrifft und zwar auf Grund von Hindernissen, die eben in den einzelnen Verhältnissen liegen (wie ja auch die Natur im Erzeugen und Vergehen in dem geringeren Teile der Fälle Mangel an Kraft leiden kann), als auch was die Kenntnis anbelangt; denn manche haben infolge von Leidenschaften oder schlechter Gewohnheit eine gesunkene Vernunft. So galt bei den Deutschen einst der Straßenraub für erlaubt, obwohl er ausdrücklich gegen das Naturgesetz verstößt; wie Julius Cäsar berichtet m lib. 6. de bello Gallico.
c) I. Nicht so ist dieser Text zu verstehen, als ob Alles, was im Alten und Neuen Bunde enthalten ist, zugleich Naturgesetz sei; da Vieles da gelehrt wird, was über die Natur erhaben dasteht. Vielmehr wird, was Naturgesetz ist, da in aller Vollkommenheit gelehrt. Deshalb fügt Gratian sogleich hinzu: „wodurch (im Alten und Neuen Testamente) jeder darüber belehrt wird, dem Anderen gegenüber das zu thun, wovon er will, daß man es an ihm selbst thue“ und umgekehrt. II. Aristoteles spricht da nicht von den allgemeinen Principien des Naturgesetzes, sondern von einzelnen Schlußfolgerungen für besondere Fälle; vgl. oben. III. Da die Vernunft im Menschen herrscht und den anderen Vermögen befiehlt, so müssen alle natürlichen Hinneigungen, welche den letzteren angehören, von der Vernunft aus geregelt werden. Das ist also bei allen anerkannt, daß die gesamten Neigungen des Menschen gemäß der Vernunft zu leiten seien.
