Fünfter Artikel. Das Naturgesetz ist unveränderlich.
a) Das Naturgesetz ist der Veränderung zugänglich. Denn: I. Ekkli. 17. heißt es: „Er fügte hinzu den Unterricht und das Gesetz des Lebens;“ und dazu bemerkt die Glosse: „Das Gesetz wollte Er der Schrift anvertrauen und mit Buchstaben ausgedrückt wissen, damit verbessert werde das Naturgesetz.“ II. Gegen das Naturgesetz ist die Tötung eines Unschuldigen, sowie der Diebstahl und der Ehebruch. Dies aber ward von Gott geändert, der dem Abraham befahl, seinen unschuldigen Sohn zu töten (Gen. 22.); den Juden, die von den Ägyptern entliehenen goldenen und silbernen Gefäße mitfortzutragen (Exod. 12.); dem Propheten Oseas, eine ehebrecherische Frau zu sich zu nehmen (Ose. 1.). III. Istdor sagt (5 Etymol. 4.): „Der Gemeinbesitz aller und die Freiheit ist dem Naturgesetze gemäß.“ Das aber ward geändert durch menschliche Gesetze. Also ist das Naturgesetz veränderlich. Auf der anderen Seite wird in den decreta (dist. 5.) gesagt: „Das Naturgesetz fing an mit dem Beginne der vernünftigen Kreatur und ändert sich nicht mit der Zeit; sondern bleibt unveränderlich dasselbe.“
b) Ich antworte, man könne eine Änderung des Gesetzes einmal darin verstehen, daß zu ihm etwas hinzugefügt wird; und so kann es geändert werden. Denn viel ist zum Naturgesetze hinzugefügt worden, was nützlich ist für das menschliche Leben, sei es vom göttlichen sei es vom menschlichen Gesetze aus. Dann kann man unter dieser Änderung verstehen, daß vom Naturgesetze etwas hinweggenommen worden, so daß etwas aufhört Naturgesetz zu sein, was früher es war; und danach ist das Naturgesetz in seinen ersten Grundprincipien unveränderlich. In jenen besonderen Schlußfolgerungen aber für einzelne besondere Fälle wird das Naturgesetz geändert, so freilich, daß in den weitaus meisten Fällen das Naturgesetz in seinem Rechte immer bleibt. (Vgl. Art. 4.)
c) I. Durch das aufgeschriebene Gesetz wurde 1. das, was im Naturgesetze noch fehlte, hinzugefügt resp. weiter bestimmt für die einzelnen Fälle; 2. wurde die Verderbtheit, die in einigen Herzen rücksichtlich des Naturgesetzes eingerissen war, so daß sie für berechtigt hielten, was durch das Naturgesetz verboten ist, möglichst geheilt. II. Des natürlichen Todes sterben nach Gottes Gebot (1. Kön. 2, 6.) auf Grund der Erbsünde alle, persönlich Schuldige wie Unschuldige. Ohne alle Ungerechtigkeit also kann nach Gottes Gebot der Tod jemandem aufgelegt werden, mag er schuldig oder unschuldig sein. Ähnlich ist Ehebruch das geschlechtliche Zusammenleben mit der einem anderen zugehörigen Frau, die jedoch diesem anderen nach Gottes Gesetz angetraut worden ist. Welcher Frau also auch immer jemand sich in dieser Weise nähert aus Gottes Gebot, der ist kein Ehebrecher und kein Unkeuscher. Ähnlich, wer etwas annimmt gemäß dem Gebote Gottes, der nimmt kein fremdes Eigentum an; denn Gott ist Herr und Meister über Alles. Und nicht nur ist das, was im Bereiche der menschlichen Thätigkeit von Gott geboten wird, Pflicht; sondern auch ist das, was im Bereiche der Natur von seiten Gottes geschieht, gewissermaßen naturgemäß. (I. Kap. 105, Art. 6 ad I.) III. Einmal ist Naturgesetz das, wozu die Natur selbst hinneigt, wie z. B. man solle dem anderen kein Unrecht thun; — dann ist Naturgesetz etwas, insofern die Natur nicht zum Gegenteil drängt; wie z. B. man sagen könnte, es sei Naturgesetz, daß der Mensch nackt sei, weil die Natur ihm keine Kleidung gegeben, sondern die menschliche Betriebsamkeit eine solche erfunden hat. Und in diesem letzteren Sinne ist der Gemeinbesitz und die Freiheit Naturgesetz; denn die Knechtschaft und der getrennte Besitz sind nicht von der Natur eingeführt, sondern auf Grund des damit verbundenen Nutzens von der Vernunft zum Nutzen des menschlichen Lebens erfunden. Nur also durch Hinzufügen und weiteres Bestimmen ist das Naturgesetz geändert.
