Erster Artikel. Das menschliche Gesetz kann manchmal geändert werden.
a) Dem widerspricht: I. Daß das menschliche Gesetz vom natürlichen sich ableitet, das unveränderlich ist. II. Daß Aristoteles sagt (5 Ethic. 5.): „Das Maß muß im höchsten Grade zuverlässig sein;“ also muß das Gesetz als Maßstab menschlicher Thätigkeit unveränderlich sein. III. Das Gesetz muß gerecht sein. Was aber einmal gerecht ist, das bleibt dies immer. Was also einmal Gesetz ist, muß dies immer bleiben. Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. de lib. arbitr. 6.): „Das zeitliche Gesetz kann, obgleich es gerecht erscheint, gemäß den verschiedenen Zeiten gerechterweise geändert werden.“
b) Ich antworte, daß das Gesetz eine Vorschrift der Vernunft sei für die Regelung der menschlichen Thätigkeiten. Also kann der Grund dasselbe zu ändern kommen: 1. Von seiten der Vernunft. Denn der menschlichen Vernunft entspricht es, daß sie nach und nach, vom Unvollkommenen zum Vollkommenen fortschreitet. So sehen wir in der reinen Wissenschaft, daß die ersten Philosophen manches Unvollkommene überliefert haben, was durch die folgenden verbessert worden. So ist es auch im praktischen Leben. Denn die da zuerst der Sorge für das allgemeine Beste sich zuwandten, konnten nicht Alles für sich allein in Erwägung ziehen und stellten deshalb manches Unvollkommene auf, was die Späteren vervollkommneten. 2. Von seiten der zu regelnden Menschen. Da kann der Grund für eine Änderung der menschlichen Gesetze vorliegen, weil die Verhältnisse der betreffenden Menschen sich geändert haben. Augustin giebt (I. c.) ein Beispiel: „Wenn ein Volk von guten Sitten und seiner Aufgabe sich bewußt ist, ein äußerst sorgfältiger Wächter des gemeinen Besten, so wird mit Recht ein Gesetz aufgestellt, wonach dieses Volk sich selbst die Obrigkeit wähle, welche die Verwaltung des Staates führen soll. Wird aber dieses Volk ein verkehrtes, so daß die Stimmen käuflich sind und daß demgemäß die Staatsverwaltung verbrecherischen Menschen anvertraut wird, so wird dem Volke mit Recht die Befugnis genommen, die Ehrenstellen zu verteilen; und das maßgebende Urteil kehrt zurück zu den wenigen Guten.“
c) I. Das natürliche Gesetz ist eine gewisse Teilnahme am ewigen Gesetze; und ist sonach unbeweglich infolge der Unveränderlichkeit und Vollkommenheit der göttlichen Vernunft, welche die Naturen gegründet und eingerichtet hat. Die menschliche Vernunft aber ist unvollkommen; und sonach ist ihr Gesetz veränderlich. Außerdem umfaßt das Naturgesetz nur allgemeine Wahrheiten, die immer bleiben; das menschliche Gesetz aber berücksichtigt mehr die wechselnden Einzelheiten. II. Das Maß muß nach Möglichkeit unverrückbar sein. Gänzlich unverrückbar kann es nicht sein inmitten der wechselnden Dinge. III. Die Geradheit und Gerechtigkeit des Gesetzes wird ausgesagt im Verhältnisse zum Gemeinbesten; dem nicht immer Ein und dasselbe entspricht.
