Vierter Artikel. Die Leiter des Volkes oder der Menge können in menschlichen Dingen dispensieren.
a) Dies wird nicht zugegeben. Denn: I. Das Gesetz richtet sich auf das Gemeinbeste. Dieses aber darf nicht vernachlässigt werden wegen des Privatvorteils einzelner; denn „das Wohl des Volkes ist göttlicher wie das eines einzelnen“ sagt Aristoteles. (1 Ethic. 2.) Solche Dispensen dürfen also nicht stattfinden. II. Den Oberen wird gesagt Deuter. 1.: „Ebenso sollt ihr anhören den Geringen wie den Mächtigen; und auf die Person niemandes sehen; — denn um das Urteil Gottes handelt es sich.“ Einem aber gestatten, was allen verweigert wird, das heißt nichts Anderes als die Personen ansehen. Also sind solche Dispensen gegen das göttliche Gesetz. III. Ist das menschliche Gesetz recht, so muß es dem Natur- und göttlichen Gesetze entsprechen; sonst würde es weder der Religion noch der Erziehung zukömmlich sein. Im Natur- und göttlichen Gesetze aber kann niemand dispensieren. Auf der anderen Seite heißt es 1. Kor. 9.: „Die Verteilung oder Verwaltung ist mir anvertraut.“
b) Ich antworte, Dispensieren oder Zuteilen, Verwalten besagt eigentlich etwas Allgemeines, allen Zukommendes, bemessen nach den Bedürfnissen der einzelnen. Deshalb wird der Leiter einer Familie „Verwalter“ genannt, insoweit er jedem aus der Familie in Gewicht und Maß zuteilt die entsprechenden Thätigkeiten und die Notdurft zum Leben. So heißt es also in einer jeden Menge von jenem, er verwalte, dispensiere, der da anordnet, wie ein gemeinsames Gebot von jedem einzelnen zu erfüllen sei. Es kann aber wohl ein Gebot für die Menge im ganzen zuträglich sein und für die einzelne Person oder den einzelnen Fall von Nachteil; entweder weil dadurch etwas Besseres gehindert oder ein Übel direkt vorbereitet würde. Nun kann ohne Gefahr es nicht dem Urteile eines jeden überlassen werden, sich selbst zu dispensieren; es müßte denn um eine augenscheinliche und plötzlich auftauchende Gefahr sich handeln. Jener also, der die Menge leitet, hat die Gewalt, für den einzelnen Fall oder für die einzelne Person von der Beobachtung des Gesetzes zu dispensieren. Thut aber der Leiter der Menge dies ohne den besagten Grund nur einzig auf Grund seines Willens, so ist er nicht treu in seiner Verwaltung; oder er ist unklug; — er ist nicht treu, wenn seine Absicht nicht auf das allgemeine Beste gerichtet ist; er ist unklug, wenn er den Grund, infolgedessen er dispensieren kann, nicht kennt. Deshalb sagt der Herr: „Wer, meinst du, ist ein getreuer und kluger Verwalter, den der Herr setzen kann über sein Haus?“
c) I. Die Dispens geschieht zum Nutzen des Gemeinbestens, nicht gegen dasselbe. II. Das ist kein Ansehen der Person, wenn das Gleiche nicht für Personen beobachtet wird, die untereinander ungleich sind. Wenn die Lage und die Stellung einer Person verlangt, daß ihr eine Gunst.gewährt werde so sieht man damit nicht die Person an. III. Soweit das Naturgesetz die allgemeinen Grundprincipien enthält, darf da nicht dispensiert werden. Soweit aber die davon abgeleiteten Folgerungen in Betracht kommen, wird bisweilen durch den Menschen dispensiert; z. B. wenn das Geliehene nicht wiedererstattet wird dem Verräter des Vaterlandes u. dgl. Zum göttlichen Gesetze aber verhält sich jeder wie eine Privatperson zum öffentlichen Gesetze, dem sie unterliegt. Wie also da keiner dispensieren kann, von dem das Gesetz nicht seine Autorität ableitet oder wem diese Gewalt nicht von diesem übertragen ist; — so kann in den Vorschriften des göttlichen Rechts, die also von Gott stammen, nur Gott dispensieren und jener, dem Gott es überträgt.
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