Dritter Artikel. Die Gewohnheit kann Gesetzeskraft erlangen.
a) Dagegen spricht: I. Das menschliche Gesetz leitet sich ab vom natürlichen und vom göttlichen Gesetze. Die Gewohnheit aber unter den Menschen kann weder das eine noch das andere ändern. II. Aus vielen Übeln kann nicht ein Gut werden. Wer aber begonnen hat, zuerst gegen das Gesetz zu handeln, hat übel gethan. Werden sonach solche Handlungen wiederholt, so kann das niemals etwas Gutes ergeben. Das Gesetz nun ist als Richtschnur der menschlichen Thätigkeit etwas Gutes. Also durch die Gewohnheit kann kein Gesetz entfernt werden, auf daß die Gewohnheit selber Gesetzeskraft erlange. III. Gesetze machen gehört den öffentlichen Personen an, denen es obliegt, das Gemeinwesen zu leiten, so daß Privatpersonen Gesetze nicht machen dürfen. Die Gewohnheit aber fängt an und wird stark durch Privatthätigkeit. Also. Auf der anderen Seite sagt Augustin (ad Casulanum): „Die Gewohnheit des Volkes Gottes und die Überlieferungen der Altvorderen sind als Gesetz zu betrachten; und gleichwie die Übertreter der göttlichen Gesetze, so sind auch die Verächter der kirchlichen Gewohnheiten zu zügeln.“
b) Ich antworte, jedes Gesetz gehe aus von der Vernunft und dem Willen des Gesetzgebers: das Natur- und das göttliche Gesetz vom vernünftigen Willen Gottes, das menschliche vom Willen des Menschen, den die Vernunft regelt. Wie aber die Vernunft und der Wille des Menschen offenbar werden durch das Wort, wenn es gilt etwas zu thun, so auch durch die That selber; denn das scheint jeder als etwas Gutes sich zu erwählen, was er im Werke ausführt. Offenbar jedoch kann vermittelst des Wortes das Gesetz verändert und erklärt werden, insoweit das Wort die innere Auffassung des Menschen offenbart. Also kann auch durch oft wiederholte Handlungen, woraus die Gewohnheit entsteht, das Gesetz geändert und erklärt und somit etwas verursacht werden, was Gesetzeskraft erlangt; durch die äußeren Handlungen nämlich wird höchst wirksam der innere Wille und Gedanke offenbar. Denn da eine häufige Wiederholung stattfindet, scheint das Urteil der Vernunft davon die Quelle zu sein. Danach also hat die Gewohnheit Gesetzeskraft; sie entfernt und erklärt das Gesetz.
c) I. Das Natur- und göttliche Gesetz kommt vom Willen Gottes; und kann deshalb durch keinen menschlichen Willen verändert werden, sondern könnte dies nur kraft des göttlichen Willens. Keine Gewohnheit also kann jemals als Autorität angerufen werden gegenüber dem Natur- und dem göttlichen Gesetze: „Die Gewohnheit gebe da der Autorität nach; schlechte Gewohnheiten soll sühnen das Gesetz und die Vernunft“ sagt Isidor (in Synonym. lib. 2, cap. 16). II. Die menschlichen Gesetze haben viele Mängel. Also kann man wohl manchmal vom Gesetze absehen, wenn nämlich das Gesetz für den einzelnen Fall mangelhaft ist; und doch kann der Akt gut sein. Werden nun solche Akte wiederholt, weil sich die einzelnen Verhältnisse der Menschen geändert haben, so wird dies geoffenbart durch die Gewohnheit, daß das Gesetz nicht mehr nützlich ist. Bleibt aber der Grund, infolge dessen das Gesetz eingeführt worden, der gleiche, so muß vom Gesetze aus die Gewohnheit entfernt werden und nicht umgekehrt; es müßte denn nur deshalb allein das Gesetz unnütz erscheinen, weil es gegen die Gewohnheit des Vaterlandes von vornherein gemacht worden ist und deshalb dessen Erfüllung als unmöglich sich herausstellt. Denn dies war ja eine Eigenschaft des Gesetzes, daß es der Gewohnheit des Vaterlandes entspreche. Schwer nämlich ist es, die Menge von einer Gewohnheit abzubringen. III. Ist die Menge frei, so daß sie sich Gesetze machen kann, so gilt in höherem Grade die Gewohnheit der ganzen Menge um etwas zu beobachten, wie der Wille des Fürsten, der nur die Gewalt hat, Gesetze aufzustellen, insoweit er die Menge in seiner Person vertritt. Es können also wohl nicht einzelne Personen je für sich Gesetze machen, wohl aber das ganze Volk kann dies. Ist aber die Menge nicht in der gesagten Weise frei, sich selber Gesetze zu machen, so erhält doch die Gewohnheit, die in einer solchen Menge vorwaltet, Gesetzeskraft; insoweit sie geduldet wird durch jene, deren Sache es ist der Menge Gesetze aufzulegen. Denn sie scheinen demgemäß die Gewohnheit zu billigen.
