Erster Artikel. Der maßgebende Grund der richterlichen Vorschriften besteht in ihrer Beziehung zum Nächsten.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. „Richterlich“ kommt von „Richten“. Auf Vieles aber erstreckt sich das Richten oder Urteilen, was nicht auf den Nächsten Bezug hat; und umgekehrt. II. Die besagten Vorschriften wären im genannten Falle nicht unterschieden von den moralischen, die sich ja auch mit dem Nächsten beschäftigen. III. Wie die Ceremonialvorschriften zu Gott, so verhalten sich die richterlichen zum Nächsten. Unter den ersteren aber sind manche, welche auf die eigene Person Beziehung nehmen, wie das was über die Speisen, Kleider etc. geboten ist. Nicht also regeln alle richterlichen Gesetze die Beziehungen zum Nächsten. Auf der anderen Seite heißt es bei Ezechiel 18.: „Wenn er in der Wahrheit gerichtet hat zwischen dem Mann und dessen Nächsten.“ Also scheinen die richterlichen Vorschriften sich auf die Beziehungen des Menschen zu seinem Nächsten zu richten.
b) Ich antworte, manche Vorschriften bei jeder Gesetzgebung leiten ihre Kraft ab von dem, was die natürliche Vernunft selber als geboten hinstellt oder als verboten; und diese heißen Moralvorschriften. Manche andere aber haben nicht in dieser Weise ihre verpflichtende Kraft, sondern rein infolge menschlicher oder göttlicher Anordnung, insoweit diese die Moralvorschriften näher bestimmt. Geschieht also diese weitere Bestimmung der Moralvorschriften vermittelst der göttlichen Anordnung in dem, was die Beziehung der Menschen zu Gott regelt; — so sind das Ceremonialvorschriften. Regeln solche weitere Bestimmungen die Verhältnisse der Menschen untereinander; — so sind das richterliche Vorschriften. Also regeln 1. letztere die Verhältnisse der Menschen untereinander; 2. haben sie verpflichtende Kraft nur infolge ihrer Anordnung, nicht aus dem Lichte der Vernunft von vornherein.
c) I. Die Fürsten haben die Gewalt, zu richten. Diese nun geht es an, nicht bloß Regeln zu geben für Beilegung von Streitsachen; sondern auch für freiwillige Kontrakte, die unter den Menschen statthaben, und überhaupt für Alles, was zum Gemeinbesten und zur Leitung des Gemeinwesens gehört. Darüber Alles also können richterliche Vorschriften ergehen, was der Gewalt des Fürsten unterliegt. II. Der Unterschied ist oben angegeben. III. In dem, was auf Gott sich bezieht, sind viele Moralvorschriften, welche die durch den Glauben erleuchtete Vernunft angiebt; wie, daß Gott zu lieben, zu ehren sei. Anderes ist da, was nur verpflichtende Kraft hat, weil Gott es so angeordnet hat. Auf Gott aber beziehen sich nicht bloß die Ihm dargebrachten Opfer, sondern auch das, was die Diener im Heiligtum und die Ihn verehren geeignet macht, Opfer darzubringen; denn die Menschen sehen in Gott ihren Zweck. Der Mensch jedoch sieht seinen Zweck nicht in der Weise im Nächsten, daß er von sich aus ohne weiteres sich in die geeignete Verfassung seinem Nächsten gegenüber in sich selbst setzen müßte, wie der Knecht gegenüber seinem Herrn. Deshalb bestehen keine richterlichen Vorschriften, welche den Menschen in sich selber regeln; sondern es giebt nur Moralvorschriften nach dieser Seite hin. Denn die Vernunft, als Princip alles Moralischen, ist im Menschen mit Rücksicht auf das, was zum Menschen gehört, wie der Fürst im Staate. Jedoch giebt es, weil die Verhältnisse des Menschen zu seinem Nächsten von vornherein mehr der natürlichen Vernunft unterliegen, wie das Verhältnis des Menschen zu Gott, nach der ersten Seite hin mehr moralische Vorschriften als nach der letzteren, nach Gott hin. Und deshalb gab es mehr Ceremonialvorschriften, also nähere Bestimmungen der moralischen Vorschriften nach Gott hin, wie richterliche, welche das gegebene Moralische nach dem Mitmenschen hin näher bestimmen.
