Erster Artikel. Das Gesetz des Neuen Bundes kann einzelne äußere Thätigkeiten vorschreiben oder verbieten.
a) Dem steht entgegen: I. Dieses Gesetz ist das des Himmelreiches, nach Matth. 24.: „Es wird gepredigt werden dieses Evangelium des Himmelreiches auf dem ganzen Erdkreise.“ Das Reich Gottes aber besteht nicht in äußerlichen Akten; sondern „es ist in uns“ (Luk. 17.); „es ist nicht Speise und Trank, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geiste.“ (Röm. 14.) II. Das Neue Gesetz ist das Gesetz des Geistes. „Wo aber der Geist des Herrn, da ist Freiheit“ (2. Kor. 3.), die da nicht ist, wo man an äußere Akte gebunden erscheint. III. Das Alte Gesetz ist das Gesetz der Hand, also der äußerlichen Thätigkeit; das Neue ist das der Seele, also der innerlichen Thätigkeit. Demnach müssen durch letzteres keine äußerlichen Akte geboten oder verboten werden. Auf der anderen Seite sind wir kraft des Neuen Gesetzes „Kinder des Lichtes“ nach Joh. 12.: „Glaubet an das Licht, damit ihr Kinder des Lichtes seiet.“ Kinder des Lichtes aber müssen Werke des Lichtes vollbringen, wie Ephes. 5. es heißt: „Ihr wäret einmal Finsternis, jetzt aber Licht im Herrn; wie Kinder des Lichtes wandelt.“ Also mußte das Gesetz des Neuen Bundes Manches vorschreiben und Manches verbieten.
b) Ich antworte, das Gesetz des Neuen Bundes bestehe vorzugsweise in der Gnade des heiligen Geistes, welche sich offenbart im Glauben, der durch die Liebe wirkt. Diese Gnade aber erlangen die Menschen durch den menschgewordenen Sohn Gottes, dessen Menschheit Gott mit Gnade angefüllt hat; und letztere ist dann bis zu uns abgeleitet worden. Deshalb heißt es Joh. I.: „Das Wort ist Fleisch geworden“ und gleich darauf: „Voll der Gnade und Wahrheit;“ später aber: „Von seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade für Gnade“, weshalb dann folgt: „Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum gemacht worden.“ Darum also ist es zukömmlich, daß vermittelst einiger äußerlicher Zeichen die vom fleischgewordenen Worte ausfließende Gnade bis zu uns hingeleitet wird; und daß von der innerlichen Gnade, durch welche das Fleisch dem Geiste Unterthan wird, ausgehen einige sinnlich wahrnehmbare Werke. So können also äußerliche Werke in doppelter Weise zur Gnade gehören: einmal als hinleitend und einführend in die Gnade; und das sind die Sakramente; — und dann als das Ergebnis der Gnade; und das sind äußerliche Werke im Einzelnen. In letzteren nun giebt es einige, welche notwendigen Zusammenhang oder Gegensatz mit der Gnade haben; und danach giebt es Gebote und Verbote im Neuen Bunde, wie das Bekenntnis des Glaubens geboten und die Verleugnung desselben verboten ist. Denn Matth. 10. heißt es: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den werde ich bekennen vor meinem himmlischen Vater; und wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde ich verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Andere solcher Werke giebt es dann, welche keinen notwendigen Zusammenhang oder Gegensatz mit der Gnade haben und deren Anordnung folgt, nicht aus der ersten Einrichtung des Gesetzes von seiten des Herrn selbst; sondern die diesbezügliche Anordnung ist überlassen einem jeden, dem die Sorge für einen anderen obliegt. Danach kann jeder für sich dergleichen bestimmen und der Obere für die ihm anvertraute Gemeinschaft. Das Evangelium ist also auch mit Rücksicht darauf ein „Gesetz der Freiheit“; denn das Alte Gesetz bestimmte Vielerlei und überließ Weniges dem freien Willen des Menschen.
c) I. Aus den innerlichen Akten, in denen wesentlich das Reich Gottes besteht, fließt Alles, was nach außen hin zum Reiche Gottes gehört. Ist demnach das Reich Gottes der Friede, die Gerechtigkeit und die Freude im heiligen Geiste, so müssen alle jene äußerlichen Akte verboten sein im Evangelium, die dem Frieden, der Gerechtigkeit, der geistigen Freude widerstreiten. Speise und Trank aber verhält sich gleichgültig zum Reiche Gottes; deshalb sagt der Apostel: „Das Reich Gottes ist nicht Speise und Trank.“ VII. II. „Frei ist, was die Ursache seines Wirkens in sich einschließt,“ heißt es 1 Metaph. 2. Jener also handelt frei, welcher von sich selbst aus handelt. Was aber der Mensch thut infolge eines seiner Natur entsprechenden Zustandes in ihm, das thut er von sich aus; denn ein solcher Zustand „neigt zu etwas hin nach Weise der Natur.“ Wäre aber der betreffende innere Zustand gegen die Natur gerichtet, so würde der Mensch handeln, nicht insofern er selbst es ist d. h. zu seinem Besten, sondern gemäß einem Verderbtsein, was zu ihm hinzutritt. Weil also die Gnade wie ein innerer Zustand ist, der uns hinneigt dazu, recht zu handeln; so bewirkt er in uns, daß wir frei wirken das, was der Gnade entspricht und frei selbständig vermeiden, was der Gnade widerstreitet. In zweifacher Weise also heißt die Gnade „das Gesetz der Freiheit“: einmal, weil sie uns im Handeln oder im Vermeiden nicht beengt, außer insoweit etwas an sich unserem Heile widerstrebt oder für selbiges notwendig ist, was dann unter das Gebot oder Verbot fällt; — dann, weil wir kraft des innerlichen Antriebes der Gnade eben diese Gebote oder Verbote frei befolgen. Deshalb nennt Jakobus die Gnade „das Gesetz der Freiheit“. III. Der Neue Bund hindert die Seele vor ungeregelten Bewegungen und somit auch die Hand, d. h. die Glieder, vor ungeregelten Thätigkeiten, denn dies sind die Wirkungen der Seele.
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