Vierter Artikel. Die Evangelischen Räte sind vollkommen zulässig.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Ratschläge werden gegeben rücksichtlich dessen, was zum Zwecke dienlich ist. Nicht das Nämliche aber dient allen. II. Ein Rat wird gegeben mit Rücksicht auf ein besseres Gut. Es giebt aber keine allgemein anerkannten bestimmten Grade im Besseren. Also dürfen keine bestimmten Räte für alle gegeben werden. III. Der Gehorsam dient am meisten der christlichen Vollkommenheit; und doch giebt darüber das Evangelium keinen Rat. IV. Vieles zum vollkommenen Leben Gehörige wird unter die Gebote gerechnet; wie z. B.: „Liebet euere Feinde.“ Also unzulässig ist es, im Neuen Bunde Räte zu geben; denn weder umfassen sie alles zur Vollkommenheit Gehörige noch lassen sie sich von den Geboten unterscheiden. Auf der anderen Seite heißt es Prov. 27.: „An mannigfaltig wohlduftenden Salben erfreut sich das Herz: und die guten Ratschläge des Freundes erfüllen die Seele mit Süßigkeit.“ Christus aber ist im höchsten Grade weise und der Freund unserer Seelen. Seine Ratschläge also sind im höchsten Grade nützlich und dem Wohle der Seele entsprechend.
b) Ich antworte; das Gebot verpflichtet. Den Rat aber anzunehmen liegt in der freien Wahl dessen, dem er gegeben wird. Zulässigerweise also werden im Neuen Gesetze, dem Gesetze der Freiheit, zu den Geboten Räte hinzugefügt; was im Alten Gesetze, dem der Knechtschaft, nicht der Fall war. Die Gebote im Neuen Bunde also schließen Notwendigkeit in sich ein, so daß, wenn sie nicht beobachtet werden, die Erreichung der ewigen Seligkeit nicht möglich ist. Die Räte aber zeigen an, wie der Mensch leichter und bequemer diesen Zweck erreichen kann. Nun steht der Mensch hier zwischen den Dingen der Welt und den geistigen Gütern, so daß, je mehr er den einen anhängt, er desto mehr sich entfernt von den anderen. Wer also ganz und gar den zeitlichen Gütern anhängt und sie als endgültige Regel und Richtschnur seines Wirkens betrachtet, der ist durchaus den geistigen Gütern, die den Zweck des Menschen schließlich bilden, ferne; und solcher Unordnung begegnen die Gebote. Nun ist es jedoch für die Erreichung des Zweckes andererseits nicht notwendig, daß jemand ganz und gar den Gütern dieser Welt entsagt; denn er kann sie gebrauchen, wenn er nur nicht seinen Endzweck in sie setzt. Aber schneller und leichter wird er den Endzweck erreichen, wenn er ganz und gar die zeitlichen Güter von sich entfernt; und darauf erstrecken sich die Evangelischen Räte. Nun lassen sich, wie oben gesagt, alle zeitlichen Güter auf den Reichtum, die Fleischesfreuden und die Ehre vor der Welt zurückführen. Darauf also verzichten und in Armut, in Keuschheit und demütig dienenden Gehorsam leben, das begründet den Stand der Vollkommenheit, wo die Evangelischen Räte beobachtet werden. Verzichtet demgemäß jemand schlechthin auf die genannten Güter und widmet sich so dem Stande der Vollkommenheit, so beobachtet er schlechthin und ohne Einschränkung die genannten Räte. Handelt er aber nur in einem einzelnen besonderen Falle nach einem der Evangelischen Räte, so beobachtet er diesen allein und nur für die besondere Handlung; wenn jemand z. B. ein Almosen spendet, zu gewisser Zeit sich von den Fleischesfreuden die er sonst genießen könnte zurückzieht um dem Gebete mehr Zeit zu widmen, oder endlich wenn er seinem Willen in erlaubten Dingen hie und da entsagt; so beobachtet er für jenen Akt, für jene Zeit, für jene Gelegenheiten diesen oder jenen Rat. Und so lassen sich alle sonstigen besonderen Ratschläge für ein vollkommenes Leben auf diese drei allgemeinen und vollkommenen Räte zurückführen.
c) I. Jene drei Räte sind an sich allen nützlich; aber wegen der besonderen inneren Verfassung im einzelnen Menschen, der zu dem oder jenem keine Neigung hat, trifft es sich, daß sie diesem einzelnen nicht dienlich sind. Deshalb thut der Herr jedesmal, wenn Er von diesen Räten spricht, Erwähnung der Bereitwilligkeit, die den Menschen für deren Befolgung passend macht. Denn da Er den Rat der Armut giebt, sagt Er zuerst: „Wenn du willst vollkommen sein“… und nachher: „Gehe und verkaufe …“ Ähnlich fügt Er, da Er den Rat der Keuschheit giebt: „Es giebt Eunuchen, die sich entmannt haben um des Himmelreiches willen,“ hinzu: „Wer es fassen kann, der fasse es.“ Und desgleichen erklärt der Apostel (1. Kor. 7.), da es sich um die Jungfrauschaft handelt: „Dies nun sage ich zu euerem Nutzen; nicht damit ich euch einen Fallstrick lege.“ II. Was ein besseres Gut ist, das ist, soweit es auf die Verhältnisse und die Lage des einzelnen Menschen ankommt, an sich unbestimmt; aber an sich und schlechthin ist dies wohl bestimmt, was im Bereiche des Guten besser ist. III. Den Rat des Gehorsams hat der Herr in den Worten gegeben: „Und er folge mir;“ und wie dies zu verstehen, besagt die Stelle bei Joh. 10.: „Meine Lämmer hören meine Stimme und folgen mir.“ IV. Soweit es die Bereitwilligkeit der Seele betrifft, ist das, was der Herr bei Matth. 6. und Luk. 6. von der Feindesliebe sagt, Gebot; daß nämlich der Mensch bereit sei, den Feinden wohlzuthun und ähnlich, sobald die Notwendigkeit dies erfordert. Daß aber dies jemand schnell und gleich thut, wo keine besondere Notwendigkeit es erfordert, das ist ein Ratund gehört zum Gehorsam, da der betreffende dann seinem eigenen Willen, der gerechterweise Rache nehmen könnte, nicht folgt. Bei Matth. 10. und Luk. 9. und 10. finden sich nur Zulassungen für jene Zeit; es sind dies keine Räte.
