Zweiter Artikel. Das Neue Gesetz regelt in genügender weise die äußerlichen Thätigkeiten.
a) Diese Regelung scheint ungenügend zu sein. Denn: I. Nach Gal. 5, 6. gehört es vorzugsweise zum Neuen Gesetze, daß „der Glaube kraft der Liebe wirkt.“ Also hätte es nicht nur einzelne Glaubenspunkte zum Alten Bunde ausdrücklich hinzufügen müssen, sondern auch Moralvorschriften. II. Sakramente sind wohl eingesetzt im Neuen Bunde; aber nicht, wie im Alten einige heilige Sachen; wie z. B. was zum Tempel gehört oder zu den heiligen Gefäßen etc. Das aber hätte sein sollen. III. Den Dienern des Heiligtums werden wohl im Neuen Bunde Vorschriften gegeben; wie z. B. Matth. 10.: „Wollet nicht besitzen Gold noch Silber noch Geld in eueren Gürteln;“ und ebenso Luk. 9. und 10. Für das Volk aber scheint nichts vorgesehen zu sein; wie dies doch im Alten Testamente der Fall war, wo Vieles von seiten des Volkes beobachtet werden mußte. IV. Richterliche Vorschriften sind nun gar nicht im Neuen Bunde. Also ist da eine ganz ungenügende Regelung der äußerlichen Thätigkeiten. Auf der anderen Seite sagt der Herr Matth. 7.: „Jeder, der diese meine Worte hört und sie thut, der wird ähnlich sein einem weisen Manne, der sein Haus gebaut hat auf einem Felsen.“ Ein weiser Baumeister aber unterläßt nichts von dem, was für den Bau notwendig ist. Also ist in den Worten Christi Alles genügenderweise vorgesehen, was zum menschlichen Heile gehört.
b) Ich antworte; das Neue Gesetz durfte nur das im Bereiche der äußerlichen Thätigkeit vorschreiben oder verbieten, wodurch wir zur Gnade hingeleitet werden oder was zum rechten Gebrauche der Gnade notwendig gehört. Da wir also zur Gnade nur durch Christum kommen können, so hat Er selbst die Sakramente eingesetzt: nämlich die Taufe, die Eucharistie, die Ordnung unter den Dienern des Neuen Bundes durch Auswahl von zwölf Aposteln und zweiundsiebzig Jüngern, die Buße und die untrennbare Ehe; die Firmung hat Er verheißen, als Er die Sendung des heiligen Geistes verhieß; und infolge seines Auftrages haben die Apostel nach Mark. 6. die Kranken mit Öl gesalbt. Der rechte Gebrauch der Gnade nun vollzieht sich kraft der Werke der heiligen Liebe. Soweit diese aber zur Notwendigkeit der Tugend gehören, sind sie in den Moralvorschriften des Alten Bundes vorhanden. Mit Bezug darauf durfte das Neue Gesetz zum Alten also nichts hinzufügen rücksichtlich der äußeren Thätigkeiten. Die weitere Anwendung jedoch dieser Moralvorschriften auf den Kult Gottes oder auf die Beziehungen zum Nächsten, wie eine solche in den Ceremonial- und richterlichen Vorschriften des Alten Bundes enthalten war, gehört nicht mit Notwendigkeit zur inneren Gnade, die das Wesen des Neuen Bundes bildet; und deshalb sind nähere Bestimmungen darin dem freien Willen des Menschen überlassen: die einen davon bezüglich der Untergebenen, von denen jeder dadurch betroffen wird; die anderen bezüglich der zeitlichen oder geistlichen Vorgesetzten, die auf das Gemeinbeste gerichtet sind. Nur also die Sakramente und die an sich zur Tugend gehörigen Moralgebote, wie „du sollst nicht stehlen“, „du sollst nicht ehebrechen“ etc.; sind als äußere Thätigkeiten vom Neuen Gesetze vorgeschrieben.
c) I. Was zum Glauben gehört, ist erhaben über die natürliche Vernunft; nur durch die Gnade können wir Kenntnis davon gewinnen. Als die Gnade also in größerer Fülle ausgegossen wurde, da wurden auch die zu glaubenden Lehrpunkte ausdrücklicher erklärt. Die Tugendwerke aber folgen der Richtschnur der natürlichen Vernunft; da durften also nicht mehr Moralvorschriften gegeben werden als jene, welche die Vernunft angiebt. II. In den Sakramenten ist die Gnade Christi enthalten, weshalb sie der Ginsetzung seitens Christi bedurften. Das ist bei den heiligen Sachen, wie Altar, Tempel etc. nicht der Fall. Deren Regelung ist somit vom Herrn den Gläubigen, resp. deren Vorstehern überlassen. III. Jene Vorschriften gab der Herr den Aposteln als Moral-, nicht als Ceremonialvorschriften. Augustin faßt sie (2. de cons. Evgl. 30.) nicht als Vorschriften, sondern als Zulassungen. Der Herr gab zu, daß die Apostel predigen gehen könnten ohne Stock und ohne Tasche u. dgl.; weil sie nämlich die Gewalt hatten, die Lebensnotdurft von den Gläubigen zu empfangen, denen sie predigten, weshalb Er hinzufügt: „Der Arbeiter ist dessen wert, daß man ihm seine Nahrung giebt.“ Wer aber, wie Paulus that, predigt und trotzdem selbst für seine Bedürfnisse dabei sorgt, der sündigt nicht, sondern thut mehr als geboten ist, macht ein opus superrogatorium. Andere Heilige jedoch erklären, diese Vorschriften hätten nur Geltung gehabt für jene Zeit, da die Apostel zur Ausübung des Predigtamtes gesandt wurden vor dem Leiden Christi. Sie bedurften es eben, wie Kinder dastehend unter der vorsorgenden Obhut des Herrn, etliche specielle Vorschriften zu erhalten; denn sie mußten langsam daran gewöhnt werden, der Sorge um das Zeitliche sich zu entschlagen und somit passend zu werden, daß sie auf dem ganzen Erdkreise das Evangelium verkündigten. Darüber aber darf man sich nicht wundern, daß der Herr, während das Alte Gesetz noch bestand und die vollendete Freiheit des heiligen Geistes noch nicht gegeben war, einige besondere Verhaltungsregeln gab, die Er dann unmittelbar vor seinem Leiden wieder aufhob mit den Worten (Luk. 22.): „Wann ich euch ohne Sack und Tasche und ohne Schuhe sandte, hat euch je etwas gefehlt? Jene aber sagten: Niemals. Er sprach also zu ihnen: Jetzt aber nehme ein jeder seinen Sack und seine (Geld-) Tasche, wenn er dergleichen hat.“ Denn die Zeit der vollendeten Freiheit war nahe, wo sie in diesen Dingen ganz ihrer eigenen freien Bestimmung überlassen werden sollten. IV. Diese Art richterlicher Vorschriften sind in ihrer einzelnen Bestimmung und Anwendung nicht notwendig zum Heile; sondern nur soweit es die Gerechtigkeit im allgemeinen angeht. Deshalb überließ der Herr dies den zeitlichen und geistlichen Oberen. Die richterlichen Vorschriften des Alten Testamentes hat der Herr wegen des schlechten Verständnisses der Pharisäer öfter erklärt; vgl. unten.
