Prooemium
Zweite Abteilung des zweiten Hauptteiles. Nachdem wir die Tugenden und Laster und Anderes, was zur Moralwissenschaft gehört, im allgemeinen betrachtet haben, müssen wir jetzt das Einzelne im besonderen erwägen. Denn Auseinandersetzungen, welche die Moral betreffen, sind weniger nützlich, so lange sie den Charakter des Allgemeinen tragen, aus dem Grunde weil die Handlungen des Menschen auf einen besonderen einzelnen Zweck gehen und unter besonderen einzelnen Umständen sich vollziehen. Nun kann man in doppelter Weise Einzelnes im Bereiche des Moralischen betrachten: 1. soweit die Materie selbst erwogen wird, nämlich eine Tugend oder ein Laster; und 2. soweit besondere Stände unter den Menschen berücksichtigt werden, wie z. B. der Stand des Oberen und des Untergebenen, der des thätigen oder des beschaulichen Lebens und Ähnliches. Zuerst also werden wir erörtern, was auf alle Menschen sich bezieht in allen Ständen; dann was den besonderen Ständen entspricht, wollten wir nun mit Rücksicht auf den ersten Punkt getrennt behandeln die Tugenden, die Gaben, die Laster, die Gebote, so müßten wir das Nämliche oft wiederholen. Denn wer in genügender weise z. B. dieses Gebot behandeln will: Du sollst nicht ehebrechen, der muß auch den Ehebruch in den Rereich seiner Betrachtung ziehen, der eine gewisse Sünde ist und dessen ausreichende Beurteilung abhängt von der Kenntnis der entgegengesetzten Tugend, wir werden also, um diesen Übelstand der öfteren Wiederholung zu vermeiden, immer in der gleichen Behandlung zusammenfassen die Tugend, die ihr entsprechende Gabe und die entgegenstehenden Laster, zugleich mit den affirmativen und negativen Geboten. Dies ist auch mehr der Natur der Laster selber zukömmlich. Denn Sünden und Laster unterscheiden sich der Gattung nach gemäß dem Gegenstande; und nicht danach daß sie im Herzen, auf der Zunge oder in Werken sind oder daß sie aus Schwäche, Unkenntnis oder Bosheit geschehen. Nun ist es aber der gleiche Gegenstand, mit Rücksicht auf welchen die Tugend recht und gerade vorgeht und das Laster sich von der rechten Richtschnur entfernt. So läßt sich also die ganze Betrachtung der Moralwissenschaft auf die Tugenden zurückführen; diese aber auf sieben, nämlich auf die drei theologischen und die vier Kardinaltugenden. Von den Tugenden in der Vernunft gehört die Klugheit zu den Kardinaltugenden. Die Kunst als Richtschnur der äußeren Kunstfertigkeit (I., II. Kap. 57, Art. 3 u. 4) gehört nicht zur Moral, die sich nur mit dem menschlichen Handeln befaßt. Die Weisheit, die Wissenschaft, das Verständnis aber sind Gaben des heiligen Geistes und kommen als solche hier zur Sprache. Die anderen Moraltugenden lassen sich alle auf die Kardinaltugenden zurückführen. (I., II. Kap. 61, Art. 3.) So wird demgemäß nichts übersehen sein.
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