Zweiter Artikel. Die den Gaben des Verständnisses und der Wissenschaft entsprechenden Gebote werden im Alten Bunde angemessenerweise gegeben.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Die ersten Gebote des Gesetzes sind die zehn Gebote. Da nun die Wissenschaft und das Verständnis die Richtschnur für die Kenntnis bilden und diese dem Wirken vorhergeht, so mußten unter den zehn Geboten solche sein, welche sich auf das Wissen und das Verständnis beziehen. II. Das Lernen geht vorher dem Lehren. Denn zuerst muß der Mensch von einem anderen lernen, ehe er lehren kann. Über das Lehren aber werden Gebote gegeben: ein affirmatives, Deut. 4.: „Du sollst lehren deine Kinder und deine Enkel;“ und ein negatives, Deut. 4.: „Ihr sollt zu dem Worte, das ich euch spreche, nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen.“ Also hätten auch über das Lernen Gebote gegeben werden müssen. III. Wissen und Verständnis ist dem Priester mehr notwendig wie dem Könige, nach Malach. 2.: „Die Lippen des Priesters mögen Wissenschaft behüten und das Gesetz werden sie aus seinem Munde zu hören verlangen;“ und Oseas 4.: „Weil du die Wissenschaft von dir gewiesen, deshalb habe ich dich von mir gewiesen, daß du nicht mein priesterliches Amt verwaltest.“ Dem Könige aber wird Deut. 17. geboten, er solle die Wissenschaft des Gesetzes erlernen. Um desto mehr mußte dies also dem Priester geboten werden. IV. Die Betrachtung kann nicht im Schlafe sich vollziehen; sie wird auch durch anderweitige Beschäftigung gehindert. Unzulässig also ist das Gebot Deut. 6.: „Du sollst dies betrachten sitzend in deinem Hause, wandelnd auf dem Wege, schlafend und aufstehend.“ Auf der anderen Seite heißt es Deut. 4.: „Alle, die von diesen Vorschriften hören werden, sollen sprechen: Siehe ein weises und verständiges Volk.“
b) Ich antworte, rücksichtlich des Wissens und des Verständnisses ist zu erwägen: 1. die Anlernung desselben; und diese geschieht durch Lehren einerseits und Lernen andererseits. Beides wird im Gesetze vorgeschrieben, Deut. 6.: „Diese Worte, die ich dir vorschreibe, sollen in deinem Herzen sein,“ was zum Lernen gehört; und: „Erzähle dieselben deinen Kindern,“ was zum Lehren gehört. 2. Der Gebrauch. Dieser vollzieht sich vermittelst der Betrachtung dessen, was jemand weiß oder versteht; und dafür steht: „Und betrachten wirst du sie in deinem Hause etc.“ 3. Die Aufbewahrung, die vermittelst des Gedächtnisses geschieht; und mit Rücksicht darauf wird hinzugefügt: „Und du sollst sie binden wie ein Merkzeichen in deine Hand; und sie sollen sein und sich bewegen vor deinen Augen; und schreiben sollst du sie auf die Schwelle und die Thore deines Hauses,“ was Alles ausdrückt, man solle stetig an die Gebote Gottes denken. Dies wird dann noch eigens in dieser Weise erklärt, Deut. 5.: „Nicht vergessen sollst du die Worte, welche deine Augen gesehen; und aus deinem Herzen sollen sie nicht schwinden alle Tage deines Lebens.“ Diese selben Gebote werden dann eingehender und ausdrücklicher im Neuen Testamente, sei es in den Evangelien sei es in der Apostolischen Lehre, wiederholt.
c) I. Deut. 4. heißt es: „Das ist Deine Weisheit und Dein Verständnis vor den Völkern.“ Also die Wissenschaft und das Verständnis der Gläubigen Gottes besteht in den Geboten Gottes. Zuerst mußten demgemäß die Gebote des Gesetzes gegeben und dann die Menschen zu deren Kenntnis angeleitet werden. Die hier besprochenen Gebote also durften nicht unter den zehn Geboten aufgezählt werden. II. Auch das Lernen wird geboten (s. oben). Ausdrücklicher aber wird das Lehren vorgeschrieben wie das Lernen; denn das Lehren bezieht sich auf die Größeren, die Vorsteher, welche selbständig von den Geboten Kenntnis nehmen können und denen sie deshalb unmittelbar gegeben werden müssen. Die Niedrigeren müssen sie von den Vorstehern lernen. III. Zugleich mit dem Priesteramte ist selbstverständlich die Verpflichtung gegeben, das Gesetz zu wissen. Es bestehen da keine besonderen, eigenen Gebote für den Unterricht der Priester. Mit dem königlichen Amte aber, das zur Regelung des Zeitlichen dient, ist nicht so sehr die Kenntnis des Gesetzes von selbst mitgegeben; und deshalb soll der König von den Priestern über das Gesetz unterrichtet werden. IV. „Schlafend“, das soll da heißen „während er schlafen geht, bevor er einschläft“; nicht während er thatsächlich schläft. Denn gute Betrachtungen beim Schlafengehen veranlassen bessere Phantasiebilder, insofern sich die Bewegungen in der Einbildungskraft vom wachenden auf den schlafenden Zustand übertragen, (l Ethic. ult.) Dann soll er bei jeder Thätigkeit an das Gesetz denken; nicht freilich thatsächlich, aber immer so, daß Alles, was er thut, gemäß dem Gesetze geregelt wird.
